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Aus: Alternatives Reisen, Beilage der jW vom 21.02.2024
Alternatives Reisen

Rückständig war gestern

Mechanisierte Baumwollernte, Ausbau von Infrastruktur und Digitalisierung: Ein Besuch in der chinesischen Provinz Xinjiang
Von Uwe Behrens
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Kinder im syrischen Palmyra

Noch bevor ich meine Reise antrat, las ich einen Bericht einer privaten Xinjiang-Reise zweier altgedienter deutscher Sinologen, Thomas Heberer und Helwig Schmidt-Glintzer. Sie waren im Mai 2023 in die Region gereist. Am 11. September veröffentlichten die beiden China-Experten einen Gastkommentar über ihre Erkenntnisse in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).

In ihrem Bericht beschreiben sie, wie sich das Leben in der autonomen Region Xinjiang, dort, wo in China verschiedene Minoritäten und Religionsgemeinschaften zusammenleben, normalisiert habe. »Auf seiten der uigurischen Bevölkerung stoßen die von der Zentralregierung angestoßenen Modernisierungen in Sachen Bildung, medizinische Versorgung und Arbeit unübersehbar auf Sympathie.« In den großen deutschen Medien konnte man diese Aussagen nicht lesen, eher das überholte Gegenteil. Von den einschlägigen Thinktanks wurden die beiden heftig kritisiert.

»In die gleiche Richtung geht eine regional aufgeteilte und angepasste Entwicklungshilfe und Ressourcenbereitstellung durch chinesische Provinzen aus dem wohlhabenderen Osten des Landes«, schreiben Heberer und Schmidt-Glintzer weiter über die Fortschritte der vergangenen Jahre. Erkennbar werde dies etwa an modernen Berufsausbildungszentren in jedem Xinjianger Landkreis. Studierende erhielten neben kostenfreier Ausbildung monatlich 200 Yuan zur Unterstützung der Eltern. »Staatlich geförderte Ansiedlung von modernen Zweigbetrieben im Agrar- und Industriesektor, die zu landesweit gültigen Mindestlohnstandards nahezu ausschließlich Uiguren einstellen müssen, soll das Beschäftigungsproblem lösen helfen.«

Xinjiang, wie ich es kenne

Das autonome Gebiet Xinjiang ist geprägt von Grasland, Wüsten und Gebirgen, traditionell mit einer bescheidenen landwirtschaftlichen Nutzung. Entsprechend lagen der Wohlstand sowie der Bildungsstand der Bevölkerung lange weit unter dem anderer Regionen Chinas, insbesondere verglichen mit den industriellen Provinzen an den Küsten, im Osten des Landes. Um diese Wohlstandsunterschiede auszugleichen, aber auch um die örtlichen Bodenschätze zu erschließen, wurde seit den 1980er und 1990er Jahren verstärkt in den Aufbau von Industrie, Infrastruktur und in die Landwirtschaft investiert, was mit einem starken Zuzug von Nicht-Uiguren, vor allem Han-Chinesen, in die Provinz verbunden war.

In den 1990ern und den Nullerjahren war Xinjiang oft von terroristischen Anschlägen betroffen. Im an China grenzenden Wakhan-Korridor wurden gewaltbereite Uiguren, gemeinsam mit den Taliban, für einen religiösen Kampf ausgebildet. Später kamen vereinzelte uigurische Gruppen in Kontakt mit terroristischen Organisationen in anderen Ländern und schlossen sich sogar dem »Islamischen Staat« an. Es kam wiederholt zu Anschlägen, ausgeübt von ultraislamistisch beeinflussten Uiguren im autonomen Gebiet Xinjiang, auch in anderen Städten Chinas. Zahlreiche Opfer waren zu beklagen.

Mit einem umfassenden Maßnahmenpaket versuchte die chinesische Zentralregierung, dem entgegenzuwirken: Einerseits setzte man auf eine Erhöhung des Wohlstands und die Überwindung der Armut durch umfangreiche Investitionen in die Infrastruktur sowie in die industrielle und landwirtschaftliche Entwicklung, aber auch auf den Ausbau des Bildungssystems. Andererseits wurde auch ein Überwachungssystem zur Bekämpfung jeglicher separatistischer und terroristischer Aktivitäten aufgebaut und die Polizeipräsenz verstärkt.

Angekommen in Kashgar dann zwei Überraschungen: am Flughafen keine Sicherheitsbeamten, weder im Flughafen noch davor bei der Übernahme des Mietautos. Am ersten Tag ist ein Besuch der Altstadt mit dem berühmten Basar angesagt. Vor dem Eingang finden sich zwei wenig beschäftigte Polizisten, es gibt Absperrungen, ähnlich wie an der Berliner Gedächtniskirche nach dem Anschlag von 2016. Der Basar in der Altstadt ist überlaufen mit einheimischen Touristen, aber weit und breit keine westlichen Besucher.

Es gehört quasi zum Pflichtprogramm, typische Xinjiang-Gerichte wie Jiao Ma Ji (Pfefferhuhn), Da Pan Ji (Huhn auf Nudeln) und insbesondere auch Shou Zhua Fan (Reis mit Lammfleisch) zu probieren. Wegen der scharfen Gewürze sind diese Gerichte gewöhnungsbedürftig. Man muss sie mehrere Male kosten, damit sich einem der wirkliche Genuss erschließt. Abends herrscht Wohlfühlatmosphäre. Am zweiten Tag steht ein Ausflug zur Ruine der buddhistischen Pagode Mo’er an, zirka 50 Kilometer vor den Toren Kashgars in einer Steinwüste gelegen. Die Tempelruine ist großräumig als Kulturerbe eingezäunt und wird für touristische Zwecke aufgewertet.

Unterwegs eine neue Überraschung: Wir fahren durch endlose Felder, auf denen in Rollen gepresste, frisch geerntete Baumwolle auf ihre Abholung wartet. Das autonome Gebiet Xinjiang gilt als das größte Baumwollanbaugebiet Chinas. Statistiken zufolge wurden 2022 dort 5,39 Millionen Tonnen geerntet, mehr als 90 Prozent der landesweiten Produktion. Auf den rund 7,07 Millionen Hektar Gesamtanbaufläche der Region sprießen heute auf mehr als 2,67 Millionen Hektar Baumwollpflanzen. Der Anbau ist in den letzten Jahren mechanisiert worden, geerntet wird heute meistens mit modernen Erntemaschinen, die die Rohbaumwolle in Ballen pressen. Was den Anteil der maschinell gepflückten Baumwolle in der Region angeht, so lag dieser nach offiziellen Angaben im Jahr 2016 noch bei 21 Prozent. Bis 2022 war er bereits auf 81 Prozent gestiegen.

Alles durchdigitalisiert

Während der gesamten Reise, ob in Beijing oder Xinjiang, hatte ich kaum eine Möglichkeit, mit Bargeld zu bezahlen. Alle Zahlungen, ob in Geschäften, auf dem Parkplatz oder im Fast-food-Kiosk am Rande der Autobahn, werden mit einem der digitalen Zahldienste wie Wechatpay oder Alipay getätigt. Beim Versuch, mit Bargeld zu bezahlen, ernte ich mitleidige Blicke.

Das digitale Zeitalter hat selbst auf dem Viehmarkt von Kashgar Einzug gehalten. Alle möglichen Nutztiere wie Schafe, Ziegen, Rinder aller Art, Yaks, Pferde, darunter Renn- und Zugpferde und Kamele werden wie vor tausend Jahren gehandelt, es wird gefeilscht, gestritten, geschimpft, gelacht – dann der Handschlag. Das Geschäft ist abgeschlossen. Es folgt der Griff zum Handy und es wird mittels QR-Code bezahlt. Empfang über 4G- oder 5G-Netz ist hier selbstverständlich.

Auf der Autoreise in den Kreis Tashkurgan, der an Tadschikistan, Afghanistan und Pakistan grenzt und in dem vorwiegend die tadschikische Minderheit lebt, passieren wir einen Kontrollpunkt, vergleichbar mit einer Mautstation. Bei der Einfahrt vernimmt man über einen Lautsprecher auf Chinesisch, dass man die Fenster öffnen und in die Kameras schauen soll. Da ich die Ansage nicht verstehe, aber als Fahrer am Steuer sitze, werde ich gestoppt. Über meine Reisebegleitung erhalte ich schließlich eine Übersetzung. Kurzer Blick in die Kamera und wir können unsere Fahrt fortsetzen. Gesichtserkennung mit Abgleichung meiner Daten des Passes und des Visums also. Die gleiche Prozedur durchlaufen alle Reisenden. Das war die einzige Kontrolle während unseres viertägigen Aufenthaltes in dieser Grenzregion. Die digitale Vernetzung einschließlich Gesichtserkennung ist flächendeckend, trägt aber zur Vereinfachung und Beschleunigung jeglicher Verwaltung bei.

Die Kreisstadt Tashkurgan war über zweitausend Jahre der zentrale Ausgangspunkt der historischen Seidenstraße über das Pamirgebirge. Hier rasteten die Karawanen der Händler mit ihren Kamelen und den kostbaren Waren aus China sowie die aus der Gegenrichtung, nämlich aus Asien und Europa. Auch der während der Tang-Dynastie lebende chinesische Mönch Xuanzang, der wesentlichen Anteil an der Verbreitung des Buddhismus in China hatte, lehrte in dieser historischen Stadt.

Heute ist Tashkurgan ein Touristenmagnet. Mit zunehmendem Bewusstsein für die traditionelle Seidenstraße als Chinas antiker Verbindung zur Welt wuchs auch das touristische Interesse und löste einen Bauboom aus. Ein neues Museum, Hotels und Restaurants eröffneten. Den Hotpot mit Yakfleisch muss man hier probiert haben. In Gesprächen erfuhren wir, dass der Zuzug von Touristikunternehmen auch für die lokale Bevölkerung viele neue Chancen eröffne. Arbeitsplätze in den Restaurants und Hotels, Jobs als Reiseführer, aber auch in den neu eröffneten Kindergärten und Schulen.

Kurzum: Die Dörfer, die wir während der Fahrten durch das autonome Gebiet passieren, machen einen wohlstandsgesicherten Eindruck. Armut sieht anders aus. Vor 30 oder noch vor 20 Jahren war mir das ländliche Xinjiang als eine rückständige Region mit schlechten Straßen, ärmlichen Dörfern, vielen Kamelen, Pferden und Eseln in Erinnerung. Da hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine gewaltige Veränderung vollzogen.

Uwe Behrens war 27 Jahre unter anderem in China und Indien als Logistikmanager tätig. Im Zuge seines beruflichen Engagements bereiste er Xinjiang viele Male und unterhielt ein Zweigbüro in der Regionalhauptstadt Ürümqi

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