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Aus: Ausgabe vom 30.12.2025, Seite 11 / Feuilleton
Theater

Was Schnitzlers nicht um den Schlaf bringt

Kannibalengesichter: »East Side Story. A German Jewsical« am Maxim-Gorki-Theater Berlin
Von Sabine Lueken
10©Ute Langkafel MAIFOTO.jpg
Es wird ernst (Theaterszene)

Musicals sind selten das Genre, in dem differenziert gezeichnete Figuren und tiefsinnige politische, historische oder philosophische Reflexionen ihren Platz finden. Müssen sie auch nicht. »East Side Story« von Juri Sternburg am Maxim-Gorki-Theater (Premiere war am 18. Dezember) startet furios mit einer Showeinlage. Alle tragen Glitzeranzüge, steppen, tanzen, singen. Lindy Larsson gibt den Conférencier, und die Ansagen sind mal ernst, mal ironisch. »Ich weiß, was Sie erwarten: einen langen und harten Theaterabend voller Schmerz. Und ich kann verstehen, wenn Sie heut’ weinend gehen, denn bei uns geht’s heut’ ans Herz.«

Auf die grelle Selbstironie folgt der Einschnitt. Es wird ernst. Zwei jüdische Schwestern, Renate (Sesede Terziyan) und Gerda (Nairi Hadodo), kommen nach acht Jahren im Versteck zurück ins zerbombte Nachkriegsberlin. Mit dem Kinderspiel »Ich packe meinen Koffer« wird die Situation halb makaber, halb witzig skizziert. Dann geht der eiserne Vorhang hoch und gibt den Blick frei auf eine Rundbühne mit verschachtelten Räumen auf verschiedenen Ebenen (Bühne: Studio Dietrich & Winter). Ein Wohnzimmer im Trümmerhaus, ein schickes Café, das mal eine Fleischerei war, am Tresen einsame Gestalten wie bei Edward Hopper. Dazwischen finstere Gänge, in denen Schwarzmarktgeschäfte abgewickelt werden. Die großartigen Kostüme (Eleonore Carrière) zwischen Trümmeralltag, eleganter Nachkriegsmode und absurden Verfremdungseffekten unterstreichen die Figurenkonstellation.

Die Schwestern können mit den überlebenden Eltern (Lindy Larsson, Edgar Eckert) dank der Hilfe der sowjetischen Kulturoffizierin Kubalowa (Anastasia Gubareva) in ihre Wohnung zurück. Doch die Nachbarn im Haus sind die alten: »Kannibalengesichter«, die Schnitzlers, die Klingelmanns, die von nichts gewusst haben. »Das waren andere Zeiten«, ist ihre Standardausrede für alle Verbrechen. Und auch die blonde Schauspielerin Maria (Klara Deutschmann), in die Renate verliebt war, hat Dreck am Stecken, ebenso wie der Schlachtergeselle Heinz (Fridolin Sandmeyer).

»Wie können die Menschen, die gerade die Lager überlebt haben, denn nur in Deutschland bleiben wollen?« fragt sich Gerda, die an Kapitalismus und individuelle Entfaltung glaubt, während Renate in Deutschland eine sozialistische Gesellschaft aufbauen will. Renate hieß Juri Sternburgs Urgroßmutter, die wie im Stück eine italienische Jüdin war; Gerda hieß die Großmutter von Regisseurin Lena Brasch. Jene wäre aus dem Londoner Exil vielleicht auch lieber nach New York statt nach Berlin gegangen und Schauspielerin oder Sängerin geworden. Für das Musical haben Regisseurin und Autor nicht nur die Namen, sondern auch andere Elemente ihrer eigenen Familiengeschichten in der DDR übernommen.

Die dritte Schwester, Dora (Jasna Fritzi Bauer), scheint tot zu sein (»Sag ihren Namen«) und sitzt meist abseits wie ein Kind, das nicht mitspielen darf. Dann wieder verbindet sie die einzelnen Stationen, kommentiert das Geschehen böse aus der Gegenwart oder erteilt Geschichtslektionen. »Zwischen 1947 und 1961 steht Deutschland (…) im Brennpunkt des Kalten Krieges – und besonders Berlin wird zur Bühne weltpolitischer Machtkämpfe. Bla, bla, Luftbrücke, Gründung der NATO, Warschauer Pakt, der Aufstand des 17. Juni, Sie kennen das alles, Sie lesen ja Zeitung, schließlich gehen Sie auch ins Theater. Als ob wir hier noch irgendwen erreichen, der nicht sowieso schon in irgendeiner Form zum Bildungsbürgertum gehört.« Dora behauptet, die Geschichte der Menschheit lasse sich auf drei Grundkonflikte reduzieren: Mensch gegen Mensch, das System gegen den Menschen, der Mensch gegen sich selbst.

Das Stück reicht bis zur »Wende« 1989 und nimmt am Schluss noch mal eine andere Abzweigung. Aus dem Fernseher tönt die Stimme Helmut Kohls, und Dora ist »mutterseelenallein«. Ist sie die einzige Überlebende? »Ich bin die dritte der drei Geschichten. Der Mensch gegen sich selbst. Weil mich immer noch quält, was Schnitzlers und Klingelmanns nicht mal ein paar Minuten um den Schlaf bringt. Vielleicht ist es besser, dass ich nicht erleben werde, wie schlimm das noch wird. Aber eins hab’ ich begriffen: Die Mörder sind nicht unter uns. Die Mörder sind sich immer einig. Und alle anderen kommen nicht zusammen. Denn die lenkt ein weiteres Feindbild vom eigentlichen Feind ab.«

»East Side Story« will kein historisches Lehrstück sein und auch kein klassisches Musical. Der Abend setzt auf klare Figuren, plakative Konstellationen und eine deutliche politische Setzung. Das wirkt mitunter schematisch, zugleich aber konsequent. Wo Differenzierung fehlt, entsteht Klarheit – darin liegt die Stärke wie auch die Grenze dieser Inszenierung. Die Musiker (Bandleader: Wenzel Krah) spielen oben auf dem Dach der Rundbühne und begleiten die Songs (Komponist: Paul Eisenach), die – mal jazzig, mal punkig, mal schlagerartig – den einzelnen Szenen Struktur geben. Am Ende verwandelt das jüdische Partisanenlied »Sag nie, du gehst den letzten Weg« den Abend in ein leises, aber kraftvolles Symbol des Widerstands.

Nächste Vorstellungen: 31.12.2025, 1.1., 17.1., 18.1.2026

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