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Aus: Ausgabe vom 28.02.2024, Seite 10 / Feuilleton
Theater

Sunset Boulevard

Zum Tod des Autors, Regisseurs und Intendanten der Berliner Volksbühne René Pollesch am 26. Februar
Von Andreas Hahn
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»Ich hasse es, wenn wir im Krieg sind. Ich hasse jeden Streit über den Krieg«: René Pollesch, allein auf weiter Flur

Die schwarze Fahne hängt auf halbmast über der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Auch vom Dach des jW-Redaktionsgebäudes aus ist sie unübersehbar. Die Pressemitteilung kam am Montag abend. René Pollesch, der amtierende Intendant der Volksbühne, Autor und Regisseur längst von Weltruf, ist am Montag, so die Mitteilung, »plötzlich und unerwartet gestorben«.

Eine Schocknachricht, zweifellos. Am Sonntag hatte an der Volksbühne noch eine Aufführung seines wohl letzten von ihm selbst inszenierten Stücks – »ja nichts ist ok« – stattgefunden, ein Soloprogramm für seinen Lieblingskollaborateur Fabian Hinrichs. Die Uraufführung war am 11. Februar. Die Reaktionen waren alles in allem recht euphorisch. Wieder einmal schien eine Zusammenarbeit mit Hinrichs das Ruder herumgerissen zu haben. Das war schon 2012 der Fall, als es nach einem zwischenzeitlichen Formtief zum Durchbruch von »Kill your Darlings! The Streets of Berladelphia« kam. Der Zitatbessenheit und Lektürebeflissenheit von Bertolt Brecht wurde die Sinnlichkeit der turnenden Körper und der charmanten offensichtlich-dummen Witze wieder zurückgegeben. In jenem Jahr formulierte er in Anlehnung an die Schauspielerin Sophie Rois in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Theaterpreises der Stiftung Preußische Seehandlung an eben diese das erste Theatergesetz: »Bloß nicht langweilen.«

Oder 2019, als die Volksbühne zwischenzeitlich gleichsam in Trümmern lag, mit dem glorreichen Show-Abend »Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt« im Friedrichstadt-Palast mitten im übriggelassenen Musicaldekor. Resteverwertung. Er rechnete mit den Beständen, nicht mit repräsentativen Illusionen. Das was rumstand, auf der Hand lag, auch unter den Nägeln brannte.

Schließlich ließ er sich wohl mehr oder weniger vom Flehen des damaligen Berliner Kultursenators Klaus Lederer erweichen, ab 2021 die Intendanz der von Chris Dercon und Klaus Dörr heruntergewirtschafteten Volksbühne zu übernehmen. Wer sonst hätte es tun sollen? Seinem »Theater aus dem Band-Prinzip« wollte er sich treu bleiben. Man müsse sich keine Sorgen machen, er sei nie alleine. Er sei auch als Regisseur und Autor nie alleine, beteuerte er. Die erste Uraufführung seiner Intendanz war eine Geschichte des Vorhangs. Kathrin Angerers Gesicht in Nahaufnahme als Videoprojektion auf und zugleich hinter besagtem Vorhang. Angerer himmelte das Foto eines Zirkusartisten und die darauf abgebildete Pose lässigen Wartens an: »Was sind sie denn für uns? Warum sind sie schön?« Die Bestände der Vergangenheit.

Pollesch wurde am 29. Oktober 1962 im hessischen Friedberg geboren. Er war ein Produkt des Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, der Brutstätte des »postdramatischen Theaters« (keine Repräsentation! Keine Rollenzuweisungen, schon gar keine Plots, Psychologie oder anderer Krimskrams).

Seine Berliner Zeit begann dann Anfang des 21. Jahrhunderts, – von dem es in »ja nichts ist ok« heißt, so wenig Leute seien dafür geeignet – ein wenig im Abseits an der alternativen Spielstätte der Volksbühne im Prater, sozusagen im verlängerten Biergarten. Der Prater war von 2001 bis 2007 seine Spielwiese. Ein früher Höhepunkt das programmatische Projekt »Stadt als Beute« (2001).

Im gewissen Sinne ist »ja nichts ist ok« eine Wiederbegegnung mit den Themen dieser frühen Jahre. Wie zusammenleben, wie sieht das Wohnen und Arbeiten aus in einer Stadt der Beute? Auf den ersten Blick hatte Pollesch einen vergleichsweise konventionellen Einakter geschrieben. Beinahe ein Kriminalstück über einen Totschlag in einer WG mit vier Bewohnern – alle gleichsam in den Resten eines alten Boulevardbühnenbilds gespielt von Fabian Hinrichs. Rätselhaft bleibt nur die Figur des Erzählers der WG-Geschichte. Es ist eine Rolle Erzählerfigur aus dem Jenseits. Sunset Boulevard. Irgendwann kommt eine Gruppe Statisten auf die Bühne. »Was wollen all diese Leute?« fragt Hinrichs »Sie kommen, um dich zu begraben, Erzähler«, antwortet Hinrichs. Die Leute begraben ihn, den Gestorbenen, unter sich, sagen ihre Vornamen auf. »Ich heiße Fabian«, sagt der Begrabene. Das Licht am Ende des Boulevards war längst ausgegangen. Vielleicht aber im Jenseits, endlich, kein Gut, kein Böse, aber endlich ein zusammen leben.

Geradezu gespenstisch müssen nun einige Passagen des letzten Pollesch-Stückes wirken: »Ich sterbe unter unvorstellbaren Qualen. Ich lebe unter unvorstellbaren Qualen. Ich arbeite unter unvorstellbaren Qualen.« Oder: »Ich hasse es, wenn wir im Krieg sind. Ich hasse jeden Streit über den Krieg.«

In seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Else-Lasker-Schüler-Preises 2012 an Pollesch schloss der mit diesem befreundete Kritiker Diedrich Diederichsen, Pollesch sei »einer der an einer Hand abzählbaren maßgeblichen Künstler der Gegenwart«. Und diesem Fazit ist nicht viel hinzuzufügen.

Der bedeutendste Künstler der Stadt Berlin des vergangenen Vierteljahrhunderts ist nicht mehr. Und obwohl im Zentrum seiner Arbeit das Zitat, die Pose, die Unterbrechung, das Missverständnis standen und kein Mittel ihm albern und abgeschmackt genug erschien, die immer drohende Gefahr des sich Durchsetzens der eigenen Künstler-Theater-Text-Autorität abzuwenden, war diese Arbeit dann irgendwie doch unverwechselbar geworden, einmalig, allein auf weiter Flur.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Norman P. aus Berlin (28. Februar 2024 um 15:16 Uhr)
    Ein gänzlich großartiger, würdevoll wertschätzender, floskelfrei einwandfrei feiner Nachruf in bester Sprache ist das hier geworden; trotz des hohen Zeitdrucks und der wahrscheinlich fehlenden persönlichen Vertrautheit zwischen Autor und Verstorbenem. So etwas, so es denn angezeigt ist, wünsche ich mir öfter in diese Zeitung. Darüber hätte sich auch ein anderer toter, großer Künstler gefreut, der zu Lebzeiten zu Recht bemängelte, dass kein Schwein mehr lobt, aber jedes noch so dumme Schwein gelobt werden will.

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