Kolonialkrieg im »Heiligen Land«
Von Mumia Abu-Jamal
Wenn wir heute an Palästina denken, kommen uns sofort die vergangenen Jahre des Gemetzels in den Sinn, bei dem mindestens 70.000 Männer, Frauen und Kinder getötet worden sind. Über 90 Prozent aller Gebäude und der Infrastruktur im Gazastreifen wurden durch israelische und US-amerikanische Bomben zerstört.
Ich halte es jedoch für wichtig, dass wir einen Moment innehalten und etwa hundert Jahre in der Geschichte Palästinas zurückgehen. Damals gaben die Briten ihre Zustimmung, arabisches Land an jüdische Einwanderer aus Europa zu übergeben. Zu dieser Zeit verwaltete das Britische Empire das Mandat über Palästina als Teil des ehemaligen Osmanischen Reiches unter der Treuhandschaft des Völkerbundes, des Vorläufers der Vereinten Nationen. Dort sehen wir die imperialen Anfänge dieser bis heute andauernden Krise. Am 2. November 1917 schrieb der damalige britische Außenminister Arthur James Balfour einen Brief an Lord Lionel Walter Rothschild, einen einflussreichen britischen Zionisten, mit folgendem Inhalt:
»Die Regierung Seiner Majestät (Georg V., jW) betrachtet die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen und wird ihr Bestes tun, um die Erreichung dieses Ziels zu erleichtern. Dabei soll jedoch nichts geschehen, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Erklärung der Zionistischen Weltorganisation zur Kenntnis bringen würden.« Soweit die Balfour-Deklaration von 1917.
Zu dieser Zeit herrschte Großbritannien über eines der größten Imperien der Welt mit Gebieten in Nordamerika, Afrika und Asien. Hinzu kamen riesige Besitztümer, die über die Weltmeere verstreut waren, wie beispielsweise in Irland. Ist es wirklich überraschend, dass die Verantwortlichen den Juden keinen Quadratmeter Land in Europa angeboten haben? Seit dieser Zeit wurden den Palästinensern systematisch ihre Ländereien gestohlen, ihre Besitzrechte genommen und ihre Ackerflächen immer weiter verkleinert. Dies ist nur als eine imperiale und neokoloniale Intrige zu betrachten, die darauf abzielte, die Rechte des palästinensischen Volkes zu beeinträchtigen.
Wie konnte Israel fast ein Jahrhundert lang gegen das Völkerrecht verstoßen, und warum haben die Vereinten Nationen weggeschaut? Dass wir uns das fragen, liegt daran, dass wir die Rolle der UNO als Nachfolgerin des gescheiterten Völkerbundes falsch verstehen. Glücklicherweise klärt uns Frantz Fanon in seinem Buch »Für eine afrikanische Revolution« darüber auf: »Heute lässt sich also sagen, dass von den Afrikanern zwei Fehler gleichzeitig begangen wurden. Zuerst von (Patrice, jW) Lumumba selbst, als er um die Intervention der UNO nachsuchte. Nicht an die UNO hätte der Appell gerichtet werden müssen. Die UNO ist niemals fähig gewesen, nur ein einziges der Probleme, die sich dem Gewissen des Menschen durch den Kolonialismus stellen, zufriedenstellend zu lösen, und jedes Mal, wenn sie interveniert hat, dann nur, um konkret der kolonialistischen Macht zu Hilfe zu eilen.«
Der Revolutionär Fanon, der mit seinem klaren Verstand bis zum Kern der Realität vordrang, begriff das Wesen der UNO und schrieb weiter folgendes: »In Wirklichkeit ist die UNO die juristische Karte, die die imperialistischen Mächte ausspielen, wenn die Karte der brutalen Gewalt nicht gezogen hat.« Zu diesen Erkenntnissen kam Fanon nach dem Verrat an dem kongolesischen Anführer Patrice Lumumba und dessen Ermordung: »Lumumbas großer Fehler«, so schrieb er, »war sein Vertrauen in den Westen und die UNO. Das kostete ihn nicht nur das Leben, sondern auch das Leben und die Zukunft des gesamten kongolesischen Volkes.«
Wir betrachten diese Entwicklungen vor dem historischen Hintergrund der schleichenden Besetzung Palästinas und seiner Gebiete, die an sich schon einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt, sowie des Aufstiegs Israels zur faktischen Regionalmacht im Nahen Osten. Manche vergleichen den zionistischen Staat mit einem Flugzeugträger. Dieser Vergleich trifft zu, denn wie ein Flugzeugträger ist auch der Staat Israel eine Kriegswaffe, ja sogar eine Massenvernichtungswaffe in der Region. Es ist die arabische Bevölkerung Palästinas, die für die mehr als tausendjährige Unterdrückung der Juden in Europa einen hohen Preis zahlen muss. Denn Europa ist der Ort wiederholter Vertreibung, Traumatisierung und, wie die deutsche Geschichte gezeigt hat, massenhafter genozidaler Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Diese historischen Erfahrungen haben im Bewusstsein von Juden zur Herausbildung eines tiefsitzenden Gefühls der Andersartigkeit geführt, wodurch das Extreme als völlig normal erscheint und zur Normalität geworden ist. Das bedeutet, dass der jüdische Staat, um seine eigene Andersartigkeit zu mildern, den Sprung von einer ehemaligen britischen Kolonie zu einer Entität vollziehen musste, die Kolonialmacht ausübt. Das heißt, dem Staat Israel kam die Aufgabe zu, wie eine europäische Macht zu handeln. Dies geschieht, indem die Palästinenser, die Ureinwohner des Landes, seit der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 – tatsächlich sogar schon davor – als »die anderen« behandelt werden.
Ich gehe davon aus, dass ein Großteil der psychischen Energie, die Israel antreibt, aus dem Hunger besteht, endlich das zu werden, was die jüdische Bevölkerung in über einem Jahrtausend in Europa nicht sein durfte: europäisch. Ein Großteil dieser Energie wurde in der Folge eher auf die Palästinenser projiziert als auf die europäischen Kräfte, die historisch gesehen ihre wahren Feinde sind. Durch den Kauf und die Herstellung von Waffen hat sich Israel eine Staatsmacht erworben, die es in die Lage versetzt, diese psychische Energie in der heutigen Welt in die Tat umzusetzen.
Der kamerunische Wissenschaftler Achille Mbembe untersucht in seinem mittlerweile klassischen Werk »Necropolitics« die zugrunde liegenden Konflikte zwischen Staaten und Kolonien. »Kolonien sind ähnlich wie Grenzgebiete, in denen ›Wilde‹ leben. Kolonien sind weder als Staatsform organisiert noch schaffen sie eine menschliche Welt. Ihre Armeen bilden keine eigenständige Einheit, und ihre Kriege sind keine Kriege zwischen regulären Armeen. Sie implizieren keine Mobilisierung souveräner Subjekte, sogenannter Bürger, die sich gegenseitig als Feinde anerkennen. Sie unterscheiden nicht zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten oder zwischen Feinden und Kriminellen. Ein Friedensschluss zwischen ihnen ist daher unmöglich. In einigen Kolonien gibt es Zonen, in denen Krieg und Unordnung sowie interne und externe Akteure des Politischen nebeneinander bestehen oder sich abwechseln. Die Kolonie ist somit der Ort par excellence, an dem juristische Kontrollen und Garantien der Rechtsordnung ausgesetzt werden können. Sie ist die Zone, in der die Gewalt des Staates, die Gewalt des Ausnahmezustands, als im Dienste der ›Zivilisation‹ stehend erachtet wird.«
Mbembes Zitat verdeutlicht die Kolonialisierung, die Herstellung des Andersseins und die Entpersonalisierung der Palästinenser, während der israelische Staat das Land der palästinensischen Ureinwohner verschlingt und sich darin einnistet. Der jüngste Krieg gegen die Hamas war in Wirklichkeit ein Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung, was der Tod von etwa 70.000 Menschen im Gazastreifen beweist.
Die von Mbembe diskutierte Dialektik »Kolonialmacht gegen Kolonisierte« beschreibt den Fahrplan für eine territoriale Verankerung der Unterdrückung. Seit fast einem Jahrhundert wird die palästinensische Bevölkerung angegriffen. Diese Angriffe dauern an – nur heute mit noch brachialeren Mitteln. Die Palästinenser kämpfen weiter, weil sie es müssen, auch wenn sie in ihrem gegenwärtigen Leben wahrhaftig »die Verdammten dieser Erde« sind. Um auf Fanons gleichnamiges Meisterwerk zurückzukommen: Die einzige Lösung für einen solchen Zustand ist der unaufhörliche Kampf gegen den Kolonisator, bis dieser nicht mehr als solcher agiert. Denn erst dann kann eine neue unabhängige Nation entstehen, die den Verdammten dieser Erde eine Stimme und einen Ort zum Leben gibt.
Übersetzung: Jürgen Heiser
Den Beitrag verfasste Mumia Abu-Jamal für die Onlinekonferenz »Von der Spaltung zur Solidarität: Wie wurde der 29. November zum Internationalen Tag der Solidarität mit Palästina?« Sie fand am 3. Dezember 2025 unter der Leitung von Rabab Abdulhadi, Direktorin der Forschungseinrichtung Studien zu Arabischen und Muslimischen Ethnien und Diaspora (AMED-Studies) an der San Francisco State University, statt.
Mumia Abu-Jamal wird am 10. Januar eine Audiobotschaft an die Teilnehmer der 31. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz richten.
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