Deal für Agrareliten geplatzt
Von Oliver Rast
Was für eine Pleite, was für eine Klatsche. Dabei hätte alles so schön sein können, so schön sein sollen: für Ursula von der Leyen. Die Präsidentin der EU-Kommission wollte an diesem Wochenende in Brasilien sein, um zur feierlichen Unterzeichnung des sogenannten EU-Mercosur-Abkommens – mit allem Tamtam – anzureisen. Daraus wird nun nichts. Vorerst.
Voraussetzung für die Unterschrift von der Leyens wäre die Zustimmung einer qualifizierten Mehrheit der 27 Mitgliedstaaten beim EU-Gipfel am Donnerstag gewesen. Diese fehlt, da unter anderem Frankreich, Polen und Italien ihre Unterstützung verweigern, berichtete Tagesschau.de am Freitag.
Lula unter Druck
Frankreich und Polen halten weiterhin an ihren grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber dem »Freihandelsabkommen« fest. Italien hat hingegen laut Ministerpräsidentin Giorgia Meloni lediglich einen Aufschub von bis zu einem Monat beantragt. In dieser Zeit will sie offene Punkte klären und die italienische Landwirtschaft von den vermeintlichen Vorteilen des Vertrags überzeugen. Über die Verschiebung hat Meloni bereits mit Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva gesprochen. Lula kündigte an, den Vorschlag nun in die Beratungen der Mercosur-Staatengruppe einzubringen. Zuvor hatte er mit einem Rückzug seines Landes aus dem geplanten Deal gedroht. Der Druck ist verständlich: Lula ist nur noch bis Ende dieses Jahres Präsident des Mercosur, ab Januar folgt Paraguay, das dem Abkommen wesentlich kritischer gegenüberstehen soll, so Spiegel online am Donnerstag abend.
Merz-Regierung als Vorprescher
Worum geht es beim Hickhack um den »Kuhhandel«? Mit mehr als 700 Millionen potentiellen Konsumentinnen und Konsumenten würde das EU-Mercosur-Abkommen die größte »Freihandelszone« der Welt schaffen. Die Verhandlungen zwischen der Europäischen Union und den vier südamerikanischen Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay laufen bereits seit mehr als einem Vierteljahrhundert. Ziel ist es, Handelshemmnisse abzubauen und die Märkte stärker zu öffnen – etwa durch den erleichterten Export europäischer Autos nach Südamerika sowie den verstärkten Import landwirtschaftlicher Produkte aus der Mercosur-Region nach Europa. Zölle sollen also fallen – weitgehend jedenfalls. Eine Vision, die Unterstützer hat.
Allen voran die »schwarz-rote« Koalition unter Friedrich Merz (CDU). Die zählt nämlich zu den treibenden Kräften hinter dem Abkommen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zunehmend angespannten Handelsbeziehungen mit der Volksrepublik China und den USA. Nach Berechnungen der EU-Kommission könnte das Abkommen jährlich rund vier Milliarden Euro an Zollkosten einsparen.
Kanzler Merz hatte bereits Ende Oktober öffentlich eine Einigung verkündet – und behauptet, letzte Einwände seien ausgeräumt. Das war falsch. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dementierte prompt, finale Arbeiten am Vertragstext würden noch laufen. Ein Knackpunkt: Schutzklauseln für europäische Bauern.
Votum für Schutzklauseln
Das EU-Parlament stimmte am Dienstag mit 431 Ja-, 161 Neinstimmen und 70 Enthaltungen den Mercosur-Schutzklauseln zu. Die Verordnung sieht vor, dass die EU die im Abkommen abgeschafften Zölle vorübergehend wieder einführen kann, wenn die Einfuhren bestimmter Produkte – etwa Geflügel oder Rindfleisch – stark ansteigen und dadurch die Preise im EU-Binnenmarkt unter Druck geraten. Über die endgültige Fassung müssen dann der EU-Ministerrat und die EU-Kommission befinden.
Der Schutzmechanismus war bereits im Mercosur-Vertrag vorgesehen, soll nach dem Willen des Parlaments jedoch präzisiert und verschärft werden. Damit sollen auch »skeptische Mitgliedstaaten« wie Frankreich und Italien stärker eingebunden werden. Wichtig: Die Zustimmung des Parlaments zu den Klauseln bedeutet nicht automatisch ein Votum für die Ratifizierung des gesamten Abkommens, über die die EU-Abgeordneten voraussichtlich im Frühjahr 2026 entscheiden werden.
Kapital für schnelle Ratifizierung
Andere halten Kritik und Protest am »EU-Mercosur-Partnerschaftsabkommen« für »maßlos übertrieben«, so die Taz in ihrer Freitagausgabe. Entgegen der Darstellung vieler Landwirte droht den EU-Agrarmärkten keine Flut billiger Importe aus Südamerika. Die EU sieht im Rahmen des Mercosur-Abkommens lediglich begrenzte Einfuhrkontingente vor, die zu reduzierten Zollsätzen in den Binnenmarkt gelangen dürfen – darunter etwa 99.000 Tonnen Rindfleisch jährlich. Das entspricht gerade einmal rund 1,5 Prozent der gesamten EU-Rindfleischproduktion. Das geht aus einer Modellrechnung des bundeseigenen Thünen-Agrarforschungsinstituts hervor.
Selbst nach den geplanten Zollsenkungen wäre daher nur mit einem minimalen Rückgang der europäischen Erzeugung zu rechnen. Schätzungen zufolge würde die Produktion um etwa ein Prozent sinken – ein Effekt, der den Markt insgesamt kaum spürbar verändern dürfte.
Eine Interpretation, die ganz auf der Linie des BRD-Kapitals liegt. So hatte etwa die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) die Bundesregierung aufgefordert, sich entschlossen für einen Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens einzusetzen. »Die EU darf die Chance nicht verpassen, sich mit den wichtigen Handels- und Rohstoffpartnern in Südamerika enger zu verbinden und bestehende Handelshürden abzubauen«, meinte DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier laut Mitteilung.
Barrikaden im Europaviertel
Aussagen, die die betroffenen Erzeuger landwirtschaftlicher Produkte in Rage brachten, in Rage bringen mussten. Mehr als 40 Bauernorganisationen aus den EU-Mitgliedstaaten unter dem Dach des EU-Bauern- und Genossenschaftsverbands (COPA/Cogeca) hatten am Donnerstag in die belgische Hauptstadt mobilisiert. Es waren eindrucksvolle Szenen, die sich in der EU-Kapitale abspielten.
Die Traktoren kamen im Morgengrauen. Ihre Motoren dröhnten, der Asphalt zitterte. Binnen Minuten war das Europaviertel in Brüssel blockiert. Zufahrten dicht, Boulevards versperrt. Barrikaden aus Holz und Reifen gingen in Flammen auf. Schwarzer Rauch legte sich über die gläsernen Fassaden der EU-Administration. Kartoffeln und Eier prallten gegen die Mauern der Institutionen, vereinzelt auch Steine. Feuerwerkskörper knallten zwischen den Reihen der Polizei. Sicherheitskräfte in voller Montur rückten vor. Wasserwerfer leerten ihren Tank, Tränengasgranaten zischten umher. Protestler husteten, Augen tränten. Dennoch: Absperrungen brachen unter dem Druck der Menge. Metall krachte, Stimmen voller Wut. 7.300 Teilnehmer zählte die Polizei, bis zu 10.000 die Veranstalter. Bauern aus allen 27 EU-Staaten waren gekommen. Rund 500 aus Deutschland.
Ein Massenaufruhr der Landwirte gegen das »Freihandelsabkommen«, gegen billige Importe, gegen den drohenden Verlust ihrer Existenz. Beschäftigte aus der EU-Bürokratie wurden angewiesen, sich von den Fenstern fernzuhalten. Einige Gebäude mussten evakuiert werden. Fazit: das Europaviertel über Stunden ein Brennpunkt, phasenweise ein Schlachtfeld.
Einsatz für Standards
Schon am Mittwoch hatten eher linke Bauernorganisationen – der European Milk Board (EMB) und der European Coordination Via Campesina (ECVC) – am Flughafen Lüttich protestiert. Einem der Drehkreuze globaler Handelsströme. Der Tenor auch hier: klare Absage an das Abkommen. Die Verbände fordern statt dessen eine Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), die diesen Namen verdient: mit ausreichendem Budget und klaren Schutzmechanismen, damit bäuerliche Betriebe ein auskömmliches Einkommen erzielen können, statt im Wettbewerb mit Billigimporten unterzugehen.
Bernd Schmitz, Bundesgeschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), erklärte, bäuerliche Betriebe, die bereits heute ressourcenschonend und mit höheren Kosten wirtschaften, würden gleich mehrfach benachteiligt. Er betonte: »Die EU lockert ökologische Standards und verzichtet zugleich auf Mindestbudgets für Agrarumweltmaßnahmen.« Außerdem öffne die EU die Märkte für Billigimporte aus den Mercosur-Staaten. Hinzu komme, dass faire Marktregeln fehlten, um den Verlust von Fördergeldern durch steigende Preise auszugleichen. Und nicht zuletzt müsse die Vergabe der GAP-Mittel deutlich gezielter erfolgen.
Poker um Melonis Zusage
Interessen, die von der Leyen wenig interessieren. Ihr dürfte es nur darum gehen: keine weitere Pleite, keine weitere Klatsche. Und dafür muss sie Italien mit ins Boot holen. Schlecht stehen die Chancen nicht. Die italienische Regierung erklärte, sie sei grundsätzlich bereit, das Mercosur-Abkommen zu ratifizieren – vorausgesetzt, die Anliegen der heimischen Landwirtschaft würden zuvor geklärt. Diese Antworten lägen jedoch in der Verantwortung der EU-Kommission und könnten »rasch konkretisiert« werden, hieß es aus Rom. Welche konkreten Zusagen Italien von der Kommission erwartet, ließ Meloni indes offen.
Fakt ist: Das EU-Mercosur-Abkommen folgt den Wirtschaftsinteressen der EU und der lateinamerikanischen Agrareliten. Die EU-Kommission verhandelte von Beginn an hinter verschlossenen Türen und schloss dabei Gewerkschaften, bäuerliche Organisationen und Umweltaktivisten konsequent aus. Herausgekommen ist ein Vertragswerk, das sich liest wie ein Wunschzettel multinationaler Konzerne.
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