Rotlicht: Eristik
Von Felix Bartels
Die schwächere Rede zur stärkeren machen. Mit dieser Formel beschrieb Gorgias, wenn Platon nicht lügt, die Rhetorik. Platon weigerte sich, sie ein Handwerk (techne) zu nennen, Rhetorik sei vielmehr eine Art Routine (emperia), ohne philosophische Grundlage, durch bloßes Tun zustande kommend. Sein Feldzug gegen die Sophisten lässt sich als Verteidigung der Philosophie sehen, der Verständigung auf ein gemeinsames Wissen, gegen die feindliche Übernahme durch eine Praxis, die eher dem Gerichts- als dem Hörsaal entsprungen ist.
Was heute als gesellschaftlicher Diskurs missdeutet wird, scheint keinen anderen Zweck zu haben als das Durchdrücken partikularer Interessen. Das betrifft die volkstümliche Praxis in sozialen Netzwerken ebenso wie die gehobene im akademischen Milieu, in der postmodernen Diskurskonzeption Judith Butlers etwa, wo ein epistemischer Geltungsanspruch in Empfindung aufgelöst und Diskurs zur bloßen Frage der Durchsetzung wird. Schopenhauer, der die sozialen Netzwerke nicht kannte und zu dessen Zeit im akademischen Bereich noch ein emphatischer Wahrheitsbegriff vorherrschte, hatte um 1830 die Abfassung der »Eristischen Dialektik« begonnen, einer Systematik aller möglichen Griffe, (inhaltlich) schwächere Rede (rhetorisch) zur stärkeren zu machen.
Eris ist die griechische Göttin des Streits. Schopenhauers 38 Kunstgriffe reichen weit, auch wenn das Ensemble Lücken lässt und redundante Momente hat, gleichermaßen zuviel und zuwenig darbietet also. Als reine Praxis (nicht Praxis von etwas) unterliegt die Kunst, mittels lediglich auf Wirkung zielender Manöver argumentativ die Oberhand zu gewinnen, stärkeren Veränderungen als andere Künste. Griffe der Eristik sind faul, da sie nur dort nötig werden, wo das substantielle Argument nicht hinreicht.
Zu den populärsten Manövern zählt die Petitio principii: das Voraussetzen dessen, was erst bewiesen werden soll. Sie taucht im politischen Diskurs auf, zum Beispiel, wo der Bruch rechtsstaatlicher Prinzipien mit der Verteidigung des Rechtsstaats gerechtfertigt wird. Oder im Konzept der Definitionsmacht, das die Frage, ob ein Verbrechen vorliegt, dem Opfer überlässt, obgleich ein Opfer erst dadurch Opfer wird, dass ein Verbrechen vorliegt. Der wohl plumpste Griff scheint das Argumentum ad nauseam. Wiederholen eines (nicht triftigen oder irrelevanten) Arguments bis zum Erbrechen. So erscheint in Debatten zur Pandemiepolitik als Antwort auf affirmative Argumente (und seien sie noch so differenziert und kontextualisiert) bis zum Erbrechen der Satz »Da hat wohl einer die RKI-Protokolle nicht gelesen«, ob der nun relevant ist oder nicht. Das Non sequitur macht sich den Unterschied zwischen Prämisse und Ableitung zunutze. Es wird etwas ins Feld geführt, das sich zwar nicht leugnen lässt, doch eigentlich keine entkräftende Relevanz besitzt.
Außerordentlich beliebt ist der Whataboutism. Die Abwehr von Kritik an der Partei, der man sich zurechnet, mittels Verweis auf das Handeln der anderen Partei. Prominent derzeit zu beobachten bei nahezu allen Beteiligten an Diskussionen über den Krieg in Gaza. Der siebente Oktober dient dazu, von den Verbrechen der IDF abzulenken und umgekehrt. Nicht weniger eristisch ist jedoch der Whataboutism-Vorwurf. Gern bemüht von Leuten, die sich bei doppelten Standards ertappt wähnen.
Weitere Griffe wären Verabsolutierung/Erweiterung (die Position des Gegners wird generalisiert oder Grenzfällen zugeführt, bis sie absurd erscheint), Argumentum ab utili (Appellieren an Motive und Interessen des Gegenüber, zum Beispiel im Verweis auf die Verfolgung von Homosexuellen in islamischen Ländern, der die Solidarität queerer Gaza-Aktivisten entkräften soll), das Ex negativo (Ableitung der Richtigkeit einer These aus der Widerlegung ihres Gegenteils, implizit hier die Annahme, dass ein Drittes nicht gegeben sein kann) oder der Analogietrick (Entsorgung spezifischer Beweisgründe, etwa wenn man einen Krieg mit einem Nachbarschaftsstreit vergleicht, der natürlich weitaus weniger komplex und vertrackt ist).
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