Ziel erreicht
Von Wiebke Diehl
Am 8. Dezember 2024 wurde die Regierung Assad – für die meisten Beobachter völlig überraschend – gestürzt. Nur elf Tage vorher hatte der Al-Qaida-Ableger Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) im Verbund mit anderen, ebenfalls aus den USA, den Golfstaaten, der Türkei und Israel unterstützten dschihadistischen Milizen eine seit Ende 2023 geplante Offensive gestartet. Die Zeichen standen aus ihrer Sicht gut, weil Russland, das seit 2015 an der Seite der syrischen Armee kämpfte, mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt und der Iran und die libanesische Hisbollah, ebenfalls enge Verbündete der Regierung Assad, durch den Krieg mit Israel geschwächt waren.
In atemberaubender Geschwindigkeit wurden die Städte Aleppo und Hama eingenommen, am 7. Dezember fiel auch das strategisch wichtige Homs. Damit übernahmen die Dschihadisten die Kontrolle über strategisch wichtige Verkehrsknotenpunkte – insbesondere die Autobahn zwischen Damaskus und der Küstenregion, dem Rückhalt der Regierung Assad, in der sich auch die russischen Militärbasen befinden. Soldaten der syrischen Armee warfen ihre Uniformen weg und flohen in Scharen. Die Einnahme von Damaskus verlief am Folgetag nahezu widerstandslos. In den frühen Morgenstunden wurde Baschar Al-Assad nach Moskau ausgeflogen. Die vom Westen angeblich seit Jahren bekämpften, eigentlich aber geförderten, HTS-Dschihadisten übernahmen die Macht.
Wenige Wochen später veröffentlichte die britische Tageszeitung The Telegraph eine Recherche, derzufolge neben der Türkei auch US-amerikanische Spezialkräfte über die Angriffspläne der Kopfabschneiderbande HTS bestens informiert waren und die Offensive aktiv beförderten. Auf dem Militärstützpunkt Al-Tanf im Dreiländerdreieck Irak, Syrien, Jordanien seien unterschiedliche Milizenverbände zusammengezogen worden, die dann zeitgleich mit der aus dem Norden des Landes gestarteten HTS-Offensive ebenfalls in Richtung Damaskus marschierten. Die US-Armee hatte ihre eigenen Truppen in Syrien kurz zuvor verdoppelt. Auch die seit 2016 von den USA unterstützten, kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), die gemeinsam mit US-Truppen den Großteil der syrischen Ölfelder kontrollieren, griffen Stellungen syrischer Regierungskräfte in Deir Al-Sor an und eroberten Ortschaften. Die israelische und US-amerikanische Luftwaffe unterstützten die Umstürzler mit Angriffen aus der Luft.
Schon als es im Frühjahr 2011 im Rahmen des sogenannten Arabischen Frühlings zu Protesten in Syrien kam, war das Ziel der Staats- und Regierungschefs im Westen, in den Golfstaaten und in der Türkei sofort klar: Die Regierung Assad, die sich weigerte, die israelische Annexion der Golanhöhen hinzunehmen, die »Achse des Widerstands« und palästinensische Widerstandsgruppen unterstützte und sich auch sonst ihren geopolitischen Interessen entgegenstellte, sollte gestürzt werden. Begründet wurde dies freilich anders: Präsident Assad stehe der Selbstbestimmung des syrischen Volkes im Weg, so der damalige US-Präsident Barack Obama. Die fraglos vorhandene Repression müsse enden. Unter dem Vorwand, Demokratie und Menschenrechte befördern zu wollen, traten insbesondere die USA, die Syrien schon seit Jahrzehnten sanktionierten, und die EU einen Wirtschaftskrieg vom Zaun. Die Hoffnung: Das Leid möge die den Protesten gegenüber skeptische Bevölkerung dazu bringen, sich gegen ihre Regierung zu erheben. Später wurde auch die Verhinderung eines Wiederaufbaus des vom Krieg geschundenen Landes zum erklärten Ziel.
Aber die Mehrheit der syrischen Bevölkerung forderte zwar zu Recht politische Reformen und Freiheiten. Einen Sturz des säkularen politischen Systems, das insbesondere den religiösen und ethnischen Minderheiten Schutz bot, lehnten sie aber genauso ab wie eine Übernahme durch radikale bewaffnete Kräfte, die zunehmend auf den Plan traten. Dennoch wurde Syrien mit Hilfe von außen beförderter Söldner ins Chaos und in einen Krieg getrieben, der über eine halbe Million Menschenleben forderte und Millionen von Syrern in die Flucht zwang. Die syrische Wirtschaft stürzte insbesondere durch die Sanktionen in eine schwere Krise, 90 Prozent der Bevölkerung lebten Ende 2024 unter der Armutsgrenze, fast 50 Prozent in extremer Armut. Die Energieproduktion sank um 80 Prozent, Medikamente wurden in einem Land, das einst 90 Prozent davon selbst hergestellt hatte, zur Mangelware. Diese Situation trug dazu bei, dass die Widerstandskraft der Bevölkerung und der Armee Ende 2024 geschwächt war, obwohl Damaskus mit Hilfe Russlands, des Iran und der Hisbollah einen Großteil des Landes bis 2016 wieder unter seine Kontrolle gebracht hatte.
Heute herrscht in Syrien alles andere als Demokratie und Menschenrechte. Und dennoch hofiert der Westen den einst per US-Kopfgeld gesuchten IS- und Al-Qaida-Terroristen Abu Muhammad al-Dscholani, der sich inzwischen mit seinem bürgerlichen Namen Ahmad Al-Scharaa ansprechen lässt. In den USA durfte er gar Basketball mit dem Kommandeur des für den Nahen Osten zuständigen US Central Command und – so schließt sich der Kreis – dem Kommandeur der Anti-IS-Koalition spielen.
Hintergrund:Weder Demokratie noch Menschenrechte
Tausende Angehörige syrischer Minderheiten, insbesondere Alawiten, Drusen und Christen, wurden seit der dschihadistischen Machtübernahme in Syrien im Dezember 2024 ermordet, vergewaltigt, gefoltert, entführt und vertrieben. Die Parlamentswahlen waren eine Farce, weil 140 Abgeordnete von staatlich eingesetzten Wahlleuten gewählt und weitere 70 vom selbst eingesetzten Präsidenten Ahmad Al-Scharaa ernannt wurden. Die Bevölkerung selbst hatte keinerlei Entscheidungsgewalt und die Wahlen fanden nur in den von der »Regierung« kontrollierten 50 von 62 Wahlbezirken statt, wodurch die Minderheiten Syriens größtenteils ausgeschlossen wurden. Wenn man auch im Westen nicht müde wird, angebliche Fortschritte zu loben, gibt es von einer Verwirklichung der Menschenrechte und Demokratie unter dem HTS-Regime keine Spur. Dass in dieser Situation die Syrien-Sanktionen größtenteils aufgehoben oder gelockert wurden, ist im Interesse der syrischen Bevölkerung, verdeutlicht aber die Doppelmoral westlicher Sanktionsregime.
Wer glaubte, es sei beim Syrien-Krieg um hehre Ziele gegangen, wird eines besseren belehrt: Die Golfstaaten, die Türkei, die USA und andere westliche Staaten teilen den Profit der erlegten Beute unter sich auf, der neoliberale Umbau der syrischen Wirtschaft schreitet voran. Privatisierungen, Auslandsverschuldung und extern auferlegte Reformen geschehen nicht im Interesse der syrischen Bevölkerung. Durch Spaltung, am Ende wahrscheinlich gar Zerstückelung, wird das Land weiter gefügig gemacht. Hofiert werden die neuen Machthaber nicht zuletzt, weil sie die israelische Besatzung, die 30 Prozent der syrischen Wasserversorgung kontrolliert und ihre »Großisrael«-Phantasien umzusetzen versucht, ohne jede Gegenwehr hinnehmen. Sie verhandeln sogar noch mit Tel Aviv, palästinensische Widerstandsgruppen im Land werden von den »Sicherheitskräften« zerschlagen. Aus Sicht der Regime-Changer gilt: Mission accomplished.
Aber inzwischen regt sich zumindest vorsichtiger Widerstand. Vergangene Woche ereignete sich ein Angriff auf israelische Besatzungssoldaten in Südsyrien, die zwei Männer bei einer Razzia »in Gewahrsam« genommen hatten. Und die alawitische Minderheit geht seit dem 25. November gegen die auf sie verübten Übergriffe auf die Straße. Nachdem die Proteste Tausender in der Küstenregion, die für Föderalismus und die Freilassung Gefangener demonstrierten, brutal niedergeknüppelt wurden, sagte der Vorsitzende des Obersten Alawitischen Rates, Scheich Ghazal Ghazal, Angriffe auf die alawitische Gemeinschaft würden fortan nicht unbeantwortet bleiben. (wd)
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