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Aus: Ausgabe vom 27.11.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Das blaue Versprechen

Mikrokosmos verlorener Hoffnungen: Julian Radlmaiers Film »Sehnsucht nach Sangerhausen«
Von Wolfgang Nierlin
11 © Grandfilm_Blue Monticola Film®.jpg
Lass Dir von alten Männern nichts von blauen Blumen erzählen (Clara Schwinning als Ursula)

Ende des 18. Jahrhunderts. Im ersten Kapitel von »Sehnsucht nach Sangerhausen« findet die junge Lotte (Paula Schindler) auf einer blühenden Blumenwiese einen blauen Stein. Sie ist Bedienstete im Schloss des Geologen und frühromantischen Dichters Friedrich von Hardenberg alias Novalis und denkt beim Entleeren des Nachttopfs über das Verhältnis von Herr und Knecht nach. Es ist die Zeit der Kirschernte, die Kunde der Französischen Revolution weckt in ihr ein ungeahntes Freiheitsbedürfnis. So wird für Lotte der blaue Stein zum Symbol für jene Sehnsucht nach der Ferne und einem unbestimmten anderen Leben, die auch Novalis mit seiner blauen Blume gemeint hat. Kurzerhand stiehlt sie die Pferde des Herrn und wagt zusammen mit einem armen Steinschlucker die Flucht.

In Julian Radlmaiers neuem, sehr poetischen Film, der sein wesentliches Motiv der Sehnsucht bereits im Titel aufruft, wandert der blaue Stein von Hand zu Hand durch die Jahrhunderte. Auf dem Weg zwischen ihren beiden Jobs als Putzfrau in einem Möbelgeschäft und als Kellnerin in einem Gasthaus entdeckt die junge Mutter Ursula (Clara Schwinning) das blaue Versprechen. Es führt sie in der Jetztzeit zunächst mit der Musikerin Zulima (Henriette Confurius) zusammen. Doch ihre aufkeimende Liebe, die sie ebenfalls zur Diebin macht, wird bitter enttäuscht, weil ihre erhoffte Fluchtpartnerin das Bewusstsein einer anderen sozialen Klasse verkörpert. So trifft sie schließlich auf die iranische Exilantin Neda (Maral Keshavarz), die sich erfolglos als Werbefilmerin und sogenannte Travel-Influencerin versucht, aber von einer Panne zur nächsten schlittert. Neda findet sich schließlich mit einem ebenso erfolglosen koreanischen Reisebegleiter, seinem kleinen, gewitzten Enkelsohn und der flüchtigen Ursula zu einer prekären, aber widerständigen und solidarischen Schicksalsgemeinschaft zusammen.

Radlmaier verdichtet in seinem episodisch und assoziativ erzählten »Film über die Alchemie der Begegnung« auf humorvolle Weise geographische, soziale und politische Motive zu einer Reflexion über gesellschaftliche Determination, Zugehörigkeit und Identität. In der ostdeutschen, im Südharz gelegenen und in Schlagern besungenen »Rosenstadt« Sangerhausen, die einst vom Bergbau lebte, heutzutage aber unter hoher Arbeitslosigkeit leidet, kreuzen sich geschichtsträchtige Motive und die Krisen prekärer Lebensverhältnisse. Das ruft die Gespenster der Vergangenheit auf den Plan. Subtil und einfallsreich, mit lakonischem Tonfall und einem aufmerksamen Blick für die Absurditäten des Alltags verbindet Radlmaier die ironische Beschreibung eines Ortes mit der unerfüllten Sehnsucht seiner Figuren. Deren Geschichten sowie ein Subtext aus Anspielungen und Referenzen überlagern sich und bilden einen Mikrokosmos verlorener Hoffnungen, in dem trotz allen Scheiterns doch die Kraft des Zusammenseins wirksam ist.

»Sehnsucht nach Sangerhausen«, Regie: Julian Radlmaiers, BRD 2025, 90 Min., Kinostart: heute

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