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Aus: Ausgabe vom 24.11.2025, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Sand im Getriebe

Lektüre hilft manchmal: Eran Riklis’ Film »Lolita lesen in Teheran«
Von Manfred Hermes
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Jetzt erst recht: Azar (Golshifteh Farahani) lehrt Literatur, die der iranischen Regierung nicht schmeckt

Im Januar 1979 setzt sich der Schah aus dem Iran ab, und Chomeini und die Seinen reisen ein. In der Aufbruchstimmung entscheidet sich Azar (Golshifteh Farahani), in ihr Heimatland zurückzukehren, um an der großen Umwälzung als Lehrerin angloamerikanischer Literatur mitzuwirken.

Aber schon die Zollkontrolle hätte der arglosen Geisteswissenschaftlerin die Augen öffnen können. Auch mit der neuen Herrschaft ist nicht zu spaßen. Der revolutionäre Impetus stellt sich hier in einer aggressiven Herablassung und einem seltsamen Interesse an den Lippenstiften und Büchern in ihrem Gepäck dar. Argwöhnisch nimmt der militärgrün uniformierte Mann die vier Bestseller »Der große Gatsby«, »Stolz und Vorurteil«, »Daisy Miller« und eben »Lolita« auf und wirft sie dann verächtlich zur Seite. Es sind dieselben Titel, die die Kapitel eines Films benennen werden, der nicht chronologisch zwischen 1980, 1995, 1988 und 1996 springt.

Ein Jahr nach der Revolution, 1980, kann Azar noch fast ungestört und vor allem unverschleiert ihren Unterricht geben. Sie parliert über Fitzgeralds Roman, »und Gatsby liebt sie«, die Blicke der Frauen verschleiern sich und die der Männer werden noch etwas strenger. Es sind dann auch diese männlichen Studenten, selbst die sympathischsten unter ihnen, die sich immer stärker daran beteiligen, die neuen Doktrinen auch an der Uni durchzusetzen.

Aus Sicht der neuen Machthaber, die die moralische Erneuerung im Geiste einer eng ausgelegten Religiosität erzwingen wollen, ist es vermutlich nachvollziehbar, auch in fiktionalen Texten vor allem den Index der Wirklichkeit zu sehen. Die lasterhaften Weiber lauern überall, da ist es egal, ob dort oder real. Und wäre es jetzt nicht angebracht, auch Werke »moralisch angemessenerer Autoren« ins Curriculum aufzunehmen? So wird langsam der Konformitätsdruck auch an der Uni erhöht. Männer und Frauen sitzen da aber ohnehin schon lange getrennt voneinander.

Auch außerhalb des Seminars geht es Schlag auf Schlag, und der erste Golfkrieg ist auch eine Gelegenheit, die Repression zu festigen. Die Selbstbestimmung von Frauen spielt da um so weniger eine Rolle, als sie ja gerade eingeschränkt werden soll. »Das Parlament hat das Hijabgesetz verabschiedet«, auf den Straßen wird die Indoktrination mit Superpostern, Graffitis oder Lautsprecherdurchsagen verstärkt, Parolen wie »kulturelle Säuberung, administrative Revolution« durch penetranten Märtyrerkult ergänzt. Auch die Politik des Schlagstocks kommt zurück. Während einer Demo verschwinden Azars Studentinnen, werden gefoltert und hingerichtet.

Obwohl die gesellschaftliche Situation immer bleierner wird, weigert sich Azar, weiterhin das schwarze Nonnengewand anzulegen, und leitet damit das Ende ihrer akademischen Karriere ein. Um aber wenigstens ihre engagiertesten Schülerinnen nicht hängenzulassen, gründet sie eine Lesegruppe. Von nun an treffen sich die Frauen zu Tee und Konfekt in einer geräumigen Wohnung im wohlhabenden Norden der Stadt, um das nichtssagende Gerede über bekannte Bücher diesmal mit Panoramablick über Teheran fortzusetzen.

Einer der faszinierenderen Aspekte von »Lolita lesen« sind die Bestimmungen von Klassenunterschieden. Zusammenstöße ergeben sich aus Kontakten mit Behörden oder Vorgesetzten. Die iranische Revolution hat auch die sozialen Sphären verschoben und die Anspruchsvoraussetzungen der gesellschaftlichen Gruppen verändert. Die frühere Oberschicht wurde oft degradiert, die neuen Entscheider eher von den Werten eines bigotten Kleinbürgertums geprägt. Die Arroganz der Macht beherrscht aber auch dieses Milieu, gibt ihren Repressalien indes eine eigene Geschmacksrichtung. Im Film geraten so die Feinen, Weltläufigen und Derrida-Leser mit den Stumpfen, Ressentimentgesteuerten und Koranverstehern aneinander, und es besteht nie ein Zweifel, auf welcher Seite er selbst steht.

Und was für eine Rolle spielt hier nun also die Literatur? Sie wird vor allem funktional gesehen und steht pauschal für alles, was gut, schön und wünschenswert ist. Sie liefert dem Widerstand und der Selbstermächtigung ein Modell. Sie lotet Zwischenräume aus, streut Sand ins Getriebe, ist Seelentröster, Sorgenbrecher und Hoffnungsträger: »Mahtab und ich haben viel über Literatur gesprochen. Das hat uns geholfen. Im Gefängnis.« Einmal wird ein Buch zum Subjekt und in einer Gerichtsszene angeklagt.

Aber so oft hier auch »Lolita« gesagt wird: Nabokovs flirrendes Unternehmen, aus der anstößigen Figur eines pädosexuellen Täters eine tragende Romanfigur und unzuverlässigen Erzähler zu machen, wird auch ganz unflirrend für die schlichte Analogisierung »Wir sind Lolita« herangezogen. Die Islamische Republik Iran wird da zum bösen Mann, der seine Schutzbefohlenen, also die Frauen, zu Kindern degradiert, schändet und um ihre Zukunft bringt. Anders als der Film differenzieren Azar Nafisis Memoiren, auf denen dieser beruht, zwar etwas mehr, allerdings geht auch das nur selbstbezüglich ausgerichtet: »Ich möchte über Lolita schreiben, aber das wäre momentan unmöglich, ohne auch über Teheran zu schreiben. Dies ist also die Geschichte von Lolita in Teheran, wie Lolita Teheran eine andere Farbe verlieh und wie Teheran dazu beitrug, Nabokovs Roman neu zu definieren und ihn zu dieser speziellen Lolita, unserer Lolita, zu machen.«

Das Gegengift gegen die Tyrannei ist also nicht frei von Süßlichkeit. Wenn die flirrenden Spiegelungen und Dopplungen in Nabokovs 1955 erschienenem Buch hier nicht mehr ausgelöst haben, ist es auch kein Wunder, dass alles in der ebenfalls bleiernen Atmosphäre von fader Sanftheit und breiiger Melancholie ertrinkt. Von der kompletten Abwesenheit von Humor, Witz und Komik ganz abgesehen.

»Lolita lesen in Teheran«, Regie: Eran Riklis, Italien/Israel 2024, 108 Min., bereits angelaufen

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