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Aus: Ausgabe vom 22.11.2025, Seite 11 / Feuilleton
Literatur

Vergeltung statt Vergebung

Mariana Travacios großer Roman über das Prinzip Hoffnungslosigkeit
Von Erich Hackl
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Eine Welt aus Staub und Steinen: Kehle trocken, Schicksal besiegelt

Man stelle sich vor, dass der legendäre mexikanische Schriftsteller Juan Rulfo in der Gestalt und unter dem Namen seiner argentinischen Kollegin Mariana Travacio auferstanden ist und die einzigen Werke, die zu seinen Lebzeiten erschienen sind, die siebzehn Erzählungen im Band »Der Llano in Flammen« und den Roman »Pedro Páramo«, um einen zweiten Roman ergänzt hat. Dass dies schon deshalb unmöglich ist, weil Travacio 1986, in Rulfos Todesjahr, zehn Jahre alt war, hätte uns nicht zu kümmern; in Lateinamerika und speziell in der lateinamerikanischen Literatur ist vieles möglich, für das ein Gringo oder eine Gringa keine Erklärung findet.

Auf alle Fälle mutet Travacios Roman »Como si existiese el perdón« (»Als gäbe es kein Verzeihen«) aus dem Jahr 2016, der nach langer Vorankündigung unter dem Titel »Ein Mann namens Loprete« und in Kirsten Brandts inspirierter Übersetzung auf deutsch erschienen ist, wie ein eigenständiges und dem großen Einzelgänger aus Jalisco doch wesensverwandtes Kunstwerk an. Er enthält, was auch Rulfos schmales Œuvre auszeichnet: die Mischung aus fantastischen Elementen und kruder Realität, Umgangssprache und Poesie, Gewalt und Zärtlichkeit. Schauplatz ist eine entlegene Gegend tief im Binnenland, vielleicht im Nordosten Brasiliens, wo Travacio ihre Kindheit verbracht hat, oder in den Savannen des Chaco, ein Landstrich jedenfalls, in dem es nie regnet und der Boden nichts hergibt. Aber selbst Mangel und Armut lassen die Menschen nicht einen Moment lang daran denken, ihr Glück anderswo zu suchen, oder auch nur die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass es so etwas wie Glück überhaupt geben kann. Was es schon gibt, im Übermaß, sind Leere, Einsamkeit und Tod, und deren Allgegenwart vermag die Leute nicht einmal dann aus ihrem Fatalismus zu rütteln, wenn es ihnen selbst an den Kragen geht oder wenn sie, unter einem atavistischen Zwang stehend, Rache üben. So gesehen ist die Welt aus Staub und Steinen, in der sie sich wie in einem ständigen Provisorium eingerichtet haben, nichts anderes als der Spiegel ihrer inneren Welt: karg, genügsam, freudlos.

Ein fremder Reiter namens José Loprete kommt ins Dorf, steigt vor der einzigen Kneipe ab, in der drei Männer, darunter der junge, als Waise bei seiner Großmutter aufgewachsene Ich-Erzähler Manoel, Karten spielen und Gin trinken. Der Fremde ist auf der Suche nach einer Ziege, die ihm davongelaufen ist. Er wird vom Barbesitzer El Tano zum Mittrinken eingeladen, es kommt zum Streit, am Ende bleibt er tot liegen. Tage – oder Wochen, Monate – später kommen ihn seine Brüder suchen. Sie finden heraus, was ihm zugestoßen ist und töten denjenigen, der im Dorf geblieben, nicht wie Manoel und El Tano geflohen war. Als Manoel erfährt, dass einer aus der Familie Loprete seine Eltern auf dem Gewissen hat, ist er nicht mehr zu halten. »Der Kummer schnürte mir den Hals zu, und mich überkam eine unbändige Lust, alle zu töten. Ein Loprete lag auf El Tanos Grundstück begraben, blieben noch acht für mich übrig. Angefangen mit dem, der geholfen hatte, meine Eltern zu ermorden.« Rache, Vergeltung, Rache. Die Geschichte wirkt, so skizziert, wie die Synopse eines Italowesterns, den man sich getrost schenken kann. Von Travacio geschrieben, liest man sie voller Spannung und in einem Zug, als würde in ihr das eigene Leben verhandelt. Das liegt daran, dass in der extremen Verknappung des Geschehens und in der Exotik der Schauplätze – erst das Dorf, in dem es seit Jahren nicht geregnet hat; dann die Hacienda der Loprete, in deren Umgebung unablässig Regen fällt – der Roman im Grunde mit nichts anderem befasst ist als mit der unbewussten Sehnsucht der Menschen, von Rache, Gewalt und Einsamkeit erlöst zu werden.

Ich habe Rulfo erwähnt, wegen der inhaltlichen Parallelen und der sprachlichen Nähe seiner Erzählungen zu Mariana Travacio und der Ausdruckskraft ihres Romans. Ich müsste auch den kolumbianischen Schriftsteller Álvaro Mutis nennen, seinen Aufsatz aus dem Jahr 1965 über die Hoffnungslosigkeit, deren Merkmale in der zeitgenössischen Literatur Lateinamerikas immer wieder auftauchen: die Hellsichtigkeit, die Nichtmitteilbarkeit, die Verlassenheit, die enge und eigentümliche Beziehung zum eigenen Tod, den der Hoffnungslose sich gelassen einverleibt. Die ihm adäquate Landschaft waren für Mutis die Tropen, womit er nicht die Bilder meint, die uns gemeinhin bei diesem Wort einfallen: Farbenreichtum, gefräßige Fruchtbarkeit der Erde, Fröhlichkeit ihrer Bewohner, sondern – als hätte er Travacios Romananfang im Sinn gehabt – »eine zwergwüchsige Vegetation, skelettartige Büsche und nacktes Dornengestrüpp«.

Auch Mutis’ Anmerkungen zur Einsamkeit des Hoffnungslosen treffen auf die Protagonisten des Romans zu, auf Manoel ebenso wie auf seinen väterlichen Freund El Tano, die Schar ihrer Gefährten und sogar ihre Feinde, die Brüder Loprete: dass es Außenstehenden nämlich unmöglich sei, dem auf seinem Weg zu folgen, der ohne Hoffnung lebt, liebt, schafft und genießt. »Nur manche Frauen erlernen die Liebe zu den Hoffnungslosen und die Kunst, sie zu behüten.« Mit einer dieser Frauen, der »hellen, durchscheinenden Luisa, von der nie ein Wort des Vorwurfs kommt«, endet der Roman.

Mariana Travacio hat ihm vor vier Jahren einen zweiten folgen lassen, »Quebrada« (»Schlucht«), der sich in derselben Umgebung entfaltet, zeitlich vor dem »Mann namens Loprete« liegt, diesem in der lapidaren Sprache, den gewaltigen Bildern und der Intensität der Empfindungen ebenbürtig ist. Ich wünsche mir, dass auch dieses Meisterwerk bald auf deutsch zu lesen sein wird.

Mariana Travacio: Ein Mann namens Loprete. Aus dem argentinischen ­Spanisch von Kirsten Brandt. Mit einem Nachwort von Jochen König. Pendragon-Verlag, Bielefeld 2025, 127 Seiten, 22 Euro

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