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Aus: Ausgabe vom 21.11.2025, Seite 12 / Thema
Palästina-Bewegung

»Ermittlungen verbieten sich«

Während die deutschen Behörden Jagd auf Anti-Genozid-Aktivisten machen, werden antipalästinensische Straftaten systematisch ignoriert. Dahinter steckt politischer Wille
Von Leon Wystrychowski
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Die deutschen Repressionsbehörden wissen, auf welcher Seite sie stehen – Polizeiübergriff bei einer Demonstration gegen den Gazakrieg in Berlin (15.5.2025)

Seit dem 7. Oktober 2023 haben die deutschen Verfolgungsbehörden die Palästina-Solidaritätsbewegung und die palästinensische Community in der Bundesrepublik mit Tausenden Strafanzeigen, zahlreichen Hausdurchsuchungen, Vereins- und Betätigungsverboten und sogar mit Abschiebungen überzogen. Der Rechtshilfeverein 3ezwa e. V. geht von etwa 12.000 Strafverfahren aus und schätzt die entstehenden Kosten auf zwölf bis 14 Millionen Euro für den Zeitraum der kommenden vier Jahre. Akut von Abschiebungen im Zusammenhang mit propalästinensischem Aktivismus bedroht seien vermutlich mehrere tausend Menschen. Hinzu kommen systematische Zensur, Verbote von Versammlungen und Veranstaltungen, verweigerte Einbürgerungen und Berufsverbote. Der augenscheinlichste Ausdruck dieser Unterdrückungspolitik ist die unglaubliche Polizeigewalt, vor allem in Berlin.

Die klar ersichtliche Unrechtmäßigkeit dieser Repression ruft auch im Ausland zunehmende Kritik hervor. Im Juli 2025 schrieb EU-Menschenrechtskommissar Michael O’Flaherty einen Brandbrief an Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU), in dem unter anderem von »Berichten über exzessive Gewaltanwendung durch die Polizei gegen Demonstranten, einschließlich Minderjährige« und »unzulässigen Eingriffen in die Menschenrechte« die Rede war.¹ Mitte Oktober forderte eine UN-Expertengruppe die deutschen Behörden auf, die »Kriminalisierung und Polizeigewalt« gegen die Palästina-Bewegung zu stoppen. Auch sie zeigte sich »alarmiert über das anhaltende Muster der Polizeigewalt und die offensichtliche Unterdrückung«. Explizit kritisiert wurde die Kriminalisierung der Parole »From the River to the Sea, Palestine will be free«. Außerdem erklärte die Expertengruppe, »dass Deutschland seit Oktober 2023 die Beschränkungen in Bezug auf den Palästina-Solidaritätsaktivismus und die Proteste eskaliert und ausgeweitet hat, obwohl die Aktionen insgesamt friedlich waren und dazu dienen, legitime Forderungen auszudrücken«.²

Billigung von Straftaten

Bislang zeigten sich die deutschen Behörden unbeeindruckt von derlei Kritik. Die Repressionswelle hat allerdings viele Illusionen und das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der BRD zerstört. Zwar gibt es auch immer mal wieder Siege vor Gericht, ebenso häufig kommt es jedoch zu völlig absurden Verurteilungen. Und allein die Tatsache, dass Polizei und Staatsanwaltschaft seit mehr als zwei Jahren ihrem Verfolgungstrieb ungehindert freien Lauf lassen können und Menschen sich wegen der Forderung nach einem freien Palästina auf Anklagebänken in deutschen Gerichtssälen wiederfinden, spricht in den Augen vieler Bände. Noch offensichtlicher wird der Charakter dieses Unrechts, wenn man die Behandlung der Anti-Genozid-Bewegung mit dem Umgang der deutschen Behörden mit proisraelischen Aktivisten vergleicht.

Bekanntlich haben die deutschen Leitmedien seit dem 7. Oktober 2023 die israelische Kriegspropaganda vielfach unkritisch übernommen. Unter ihnen gibt es allerdings einige Medien, die israelische Kriegsverbrechen nicht nur leugnen, sondern ganz offen rechtfertigen oder sogar belobigen. Dazu gehören der Online-Blog Ruhrbarone, aber auch »seriösere« Vertreter, von denen hier nur zwei beispielhaft angeführt werden sollen:

Der ehemalige Leiter des ARD-Studios in Tel Aviv, Richard Schneider, schrieb am 8. Oktober 2023 im Spiegel: »Israel wird zurückschlagen, und es hat alles recht dazu. Auch dabei wird es schreckliche Vorfälle geben, tote palästinensische Kinder und Mütter. Der israelische Staat wird diesen Angriff auf das eigene Territorium mit äußerster Härte beantworten. (…) Dann werden die Klagen aus dem Westen kommen, die Vorwürfe und die Rufe nach Mäßigung. (…) Diejenigen, die dann rufen, sollten sich überlegen, wer diesen Krieg begonnen hat. (…) Und sie sollten sich klarmachen, was es heißt, wenn eine reguläre Armee einen Krieg gegen eine terroristische Organisation führen muss.« Und weiter: »Eins aber ist klar: Für die Toten, die es schon gibt, und die, die es noch geben wird, ist die Hamas verantwortlich.«³ Dieser Artikel war ein Freibrief für den Genozid. Schneiders vorweggenommene Billigung der Ermordung Unschuldiger wurde weder kritisiert noch juristisch belangt. Statt dessen druckte das Manager-Magazin den Artikel voller Begeisterung nach.⁴

Am 19. September 2024 freute sich der ehemalige Stern-Redakteur Hans-Ulrich Jörges im Nachrichtensender Welt nach eigenem Bekunden über die israelischen Pager-Anschläge im Libanon. Er erklärte: »Man darf nicht nur, man muss von dieser Geheimdienstoperation begeistert sein.« Die Anschläge, bei denen ihm zufolge »nur Hisbollah-Leute getroffen« worden seien, wären »umwerfend«. Genüsslich beschrieb er die Bilder schwerverletzter Libanesen – in seinen Worten »Terror-Machos« –, denen »ihre Männlichkeit« – also ihre Geschlechtsteile – »zerfetzt worden ist.«⁵ Jörges unterschlug dabei die Tatsache, dass die Hisbollah eine libanesische Regierungspartei mit Zehntausenden Mitgliedern ist und ihre bewaffneten Einheiten einen legalen Status haben. Die NGO Action on Armed Violence spricht von 3.358 Zivilisten, die bei diesen Anschlägen verletzt, und 15, die getötet wurden.⁶ Dem Euro-Med Human Rights Monitor zufolge waren unter den Ermordeten auch zwei Kinder.⁷ Zudem ist es laut Kriegsvölkerrecht verboten, Sprengsätze einzusetzen, die als Alltagsgegenstände getarnt sind und die unnötiges Leid verursachen; auch wurde kein Unterschied zwischen Zivilisten und Kombattanten gemacht. Jörges gab mit seiner Äußerung ein eindrucksvolles Beispiel der rassistischen Barbarei des deutschen Mainstreams. Auch hier folgten weder ein öffentlicher Aufschrei noch strafrechtliche Konsequenzen.

Im September 2024 wurde in Brüssel die nach einer von den Israeli Defense Forces (IDF) ermordeten Fünfjährigen benannte Hind Rajab Foundation (HRF) gegründet. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, in Kriegsverbrechen verwickelte IDF-Soldaten ausfindig zu machen und anzuzeigen. So forderte sie die deutschen Behörden auf, gegen Dror Z. B., Shay F. und Barel K. zu ermitteln.⁸ Allen dreien wirft die HRF die Beteiligung an Kriegsverbrechen vor. Am 31. Oktober gab die HRF zudem bekannt, Strafanzeige gegen Elkana F. erstattet zu haben.⁹ Dieser gehöre der extrem rechten Organisation »Tsav 9« an, die in der Vergangenheit humanitäre Hilfslieferungen für den Gazastreifen blockiert hat. F.s Beteiligung daran sowie die Verherrlichung des Missbrauchs palästinensischer Häftlinge sei durch öffentliche Videos dokumentiert. Zum Zeitpunkt der Anzeige habe er sich in Berlin aufgehalten, wo er öffentlich als Redner auftrat.

Die Generalbundesanwaltschaft (GBA) verwies jW telefonisch auf die Bekanntmachungen der HRF und wollte lediglich bestätigen, dass entsprechende Anzeigen eingegangen seien. Ob diese bereits geprüft wurden und mit welchem Ergebnis, wollte sie nicht mitteilen. Aus dem Gespräch ließ sich allerdings entnehmen, dass man in Karlsruhe nicht davon ausgehe, dass die vorgebrachten Beweise für eine Anklage ausreichen. Den Anträgen der Stiftung, F. und F., die sich zum Zeitpunkt der Anzeigen in Deutschland aufhielten, festzunehmen, wurde nicht entsprochen.

Am 8. Oktober 2024 hatte dem Spiegel zufolge ein junger Student den Deutschen Daniel G. angezeigt, nachdem der Journalist Younis Tirawi ein Interview veröffentlicht hatte, demzufolge G. als Soldat in zahlreiche Kriegsverbrechen in Gaza verwickelt gewesen sein soll. Die GBA wies die Anzeige »mangels hinreichenden Anfangsverdachts« ab. Am 10. September 2025 wurde erneut Strafanzeige gegen G. gestellt, diesmal vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) zusammen mit drei palästinensischen Menschenrechtsorganisationen.¹⁰

Knapp eine Woche später gab das European Legal Support Center (ELSC) bekannt, Strafanzeige »gegen elf hochrangige Beamte der ehemaligen und derzeitigen deutschen Regierung und CEOs von Waffenherstellern erhoben« zu haben. Unter den Angezeigten sind Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Robert Habeck, Friedrich Merz, Johann Wadephul und Boris Pistorius.¹¹

»Kein öffentliches Interesse«

Der Fall Daniel G. zeigt, dass die deutsche Justiz wenig Interesse daran hat, Personen zur Rechenschaft zu ziehen, die unmittelbar in den Gazakrieg verwickelt sind. Ein weiteres Beispiel ist der Deutsche Arye Sharuz Shalicar, seit Jahren Sprecher der IDF. Im Mai 2024 rief die Organisation »Palästina Spricht« dazu auf, Shalicar wegen Volksverhetzung anzuzeigen, da er in mehreren Tweets erklärt hatte, die Palästinenser, insbesondere im Gazastreifen, seien als Kollektiv selbst für die ihnen zugefügte Gewalt verantwortlich. Dabei setzte er »unschuldige Zivilisten« durchweg in Anführungszeichen und erklärte, »alle Kinder« in Gaza würden »von klein auf zu Mördern, Vergewaltigern und Entführern indoktriniert und ausgebildet« werden.¹² Wie die Staatsanwaltschaft (StA) Berlin mitteilte, seien bei ihr 27 Anzeigen gegen Shalicar eingegangen, die »allesamt ohne Aufnahme von Ermittlungen mangels Anfangsverdachts eingestellt« wurden.

Bereits im Januar war bei der StA Kleve Anzeige gegen Shalicar erstattet worden. Wie es in einem Schreiben, das der Journalist Tarek Baé veröffentlichte, heißt, hatte die StA das Verfahren »vorläufig« ausgesetzt, »weil der Aufenthaltsort des Beschuldigten nicht ermittelt werden konnte«. Statt dessen schrieb sie ihn zur Fahndung aus.¹³ Da sich Shalicar seither mehrfach in Deutschland aufhielt, fragte jW bei der StA an und erfuhr, dass das Verfahren bereits am 13. November 2024 eingestellt worden ist. Die Behörde stützte sich dabei auf eine Regelung, der zufolge sie »von der Verfolgung von Straftaten absehen« kann, »wenn die Durchführung des Verfahrens die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführen würde oder wenn der Verfolgung sonstige überwiegende öffentliche Interessen entgegenstehen«. Das klingt sehr danach, dass der deutsche Staatsbürger Shalicar aufgrund seiner Funktion als IDF-Sprecher einen Freifahrtschein besitzt.

Am 9. Oktober 2023 schlug der Lehrer Andre T. in Neukölln einem Schüler ins Gesicht. Dessen »Vergehen«: Er hatte eine Palästina-Fahne mit in die Schule gebracht. Von Bild bis Tagesspiegel wurde der Fall als »Schlägerei« dargestellt, weil der misshandelte 15jährige sich gegen den gewalttätigen Lehrer mit einem Tritt zur Wehr gesetzt hatte. Während sich T. nach diesem Vorfall krankschreiben ließ, musste der Schüler die Schule verlassen. Im Januar 2025 stellte das Amtsgericht Tiergarten das Verfahren gegen den prügelnden Pädagogen gegen eine Geldauflage von 800 Euro ein. Gegen den Angegriffenen lief ebenfalls ein Verfahren. Es endete im April mit einem Freispruch: Das Gericht stellte fest, dass der Jugendliche in Notwehr gehandelt hatte. Außerdem wurde die Behauptung des Lehrers, der Schüler habe ihm eine Kopfnuss verpasst, widerlegt. Ein wichtiger Erfolg für den Jugendschutz, der die Einstellung des Verfahrens gegen T. allerdings um so fraglicher erscheinen lässt. Das Verfahren gegen ihn kann aus rechtlichen Gründen nicht wiederaufgenommen werden. Zwar kündigte die Staatsanwaltschaft laut Rechtsanwalt Ahmad Abed an, den Lehrer wegen Falschaussage belangen zu wollen. Das ist aber offenbar nicht passiert. Auf Anfrage wurde jW mitgeteilt, es sei »kein entsprechendes Verfahren notiert«.

Anfang August 2024 wurde das Palästina-Camp an der Uni München in Brand gesteckt.¹⁴ In einer Stellungnahme zeigte sich die Studierendenvertretung »zutiefst besorgt« darüber, dass »der Täter aus dem Polizeigewahrsam entlassen wurde, obwohl in bezug auf den Brandanschlag von einem ›muslimfeindlichen Tatmotiv‹ ausgegangen wird und die Bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) eingeschaltet wurde«. Die General-StA München bestätigte jW, dass der mutmaßliche Täter nicht in Untersuchungshaft genommen wurde, weil gegen ihn lediglich wegen »Sachbeschädigung in Tateinheit mit Verstoß gegen das Bayerische Versammlungsgesetz« ermittelt wurde. Der Gesetzeskatalog geht bei Brandstiftung an einer »Räumlichkeit, die zeitweise dem Aufenthalt von Menschen dient, zu einer Zeit, in der Menschen sich dort aufzuhalten pflegen« normalerweise von schwerer Brandstiftung aus und sieht eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr vor.

Im Oktober 2024 wurde der Palästina-Aktivist Ulrich Eckle im baden-württembergischen Langenau Opfer von fünf Einbrüchen. Der Täter zerstörte gezielt Palästina-Banner und richtete einen Schaden in Höhe von 20.000 Euro an. Zwar konnte der mutmaßliche Einbrecher bald geschnappt werden, doch die StA stellte die Ermittlungen ein, weil »kein öffentliches Interesse« an einer Strafverfolgung bestehe. Am 7. Dezember 2024 zog, ebenfalls in Langenau, ein Mann während einer Palästina-Demo eine Waffe und schüchterte die Demonstranten damit ein. Die StA Ulm teilte jW schriftlich mit, »dass es sich bei der in der Hand gehaltenen ›Waffe‹ um eine nicht geladene erlaubnisfreie Schreckschusswaffe handelte«. Am 2. Juli 2025 sei der Mann vom Amtsgericht Ulm freigesprochen worden, weil ihm »ein Bedrohungsvorsatz nicht nachzuweisen war«.

Zweierlei Volksverhetzung

Im Frühjahr 2024 kursierte im Internet ein Video des zionistischen Aktivisten Juan L., der an der FU Berlin in Richtung einer propalästinensischen Kundgebung auf Hebräisch sang: »Hört gut zu, ihr Terroristen, mögen eure Dörfer brennen!«¹⁵ Die FU-Leitung erklärte, L. deshalb angezeigt zu haben. Die StA Potsdam stellte das Verfahren jedoch ein, weil der »Tatbestand der Volksverhetzung und verhetzenden Beleidigung nicht erfüllt« gewesen sei. Da nur noch »eine (einfache) Beleidigung« im Raum gestanden habe, sei das Verfahren komplett zu den Akten gelegt worden, weil L. bereits wegen des Mitführens von Pfefferspray zu 1.800 Euro Geldstrafe verurteilt worden war.

Am 28. Juni 2025 postete der Ruhrbaron-Autor Peter Ansmann auf X ein Foto, auf dem eine Palästina-Fahne zu sehen war, die im migrantisch geprägten Duisburg-Hochfeld an einem Geschäft hing. Der Kommentar des rechten Bloggers: »Schmutzlappen zu Höchstpreisen.« Ein Palästinenser erstattete Anzeige wegen Volksverhetzung. Die StA Duisburg stellte das Verfahren Ende August ein – und sich in ihrem Schreiben dumm, indem sie erklärte, die Bezeichnung »Schmutzlappen« sei vielleicht gar nicht auf die Fahne bezogen, »da diese – soweit ersichtlich und anders als die übrigen erkennbaren Waren – nicht zum Verkauf angeboten wird«.

Etwa zeitgleich stellte die StA Berlin ihre Ermittlungen wegen Volksverhetzung ein, die sie nach einer Anzeige der Rechtsanwältin Ebru Akcan Asiltürk aufgenommen hatte. Dabei ging es um Fotos des Berliner Restaurants Feindberg’s in den sozialen Medien: Beworben wurde das Angebot »Israeli Style Watermelon«, nämlich »gehäckselt, prüiert (sic!) & zerhackstückelt«. Darunter zu sehen war ein animierter Löwe mit Israel-Fahnen, um ihn herum Wassermelonenstücke mit Gesichtern. Die Wassermelone ist ein bekanntes Symbol für die palästinensische Nation. Die Berliner StA behauptete zwar, es sei ihr »nicht gelungen«, den Täter zu ermitteln. Allerdings erklärte sie auch: »Weitere Ermittlungen zur Namhaftmachung eines Tatverdächtigen verbieten sich, weil kein hinreichender Tatverdacht vorliegt.« Offenbar seien hier lediglich »Kriegshandlungen im Gaza (sic!) gemeint« und man verfolge keine Volksverhetzung, die auf eine »Bevölkerung außerhalb des Hoheitsgebietes der BRD« abziele. Auch werde keine konkrete Straftat gebilligt.

Das ist durchaus bemerkenswert, weil die Paragraphen 130 Absatz 5 und 140 Strafgesetzbuch dezidiert zur Ahndung von Aussagen, die sich auf das Ausland beziehen, geschaffen wurden. Freilich sollen damit Äußerungen kriminalisiert werden, die das Handeln von erklärten »Feinden« der BRD billigen, und nicht solche, die die Verbrechen der eigenen Alliierten anprangern. Und so wurden seit Oktober 2023 in der ganzen Republik Personen strafrechtlich verfolgt, weil sie sich angeblich volksverhetzend gegen Israelis und Juden – sowohl in Deutschland als auch im Ausland – geäußert haben. Dafür reichten Begriffe und Parolen wie »Widerstand«, »Intifada«, »From the River to the Sea«, »Kindermörder Israel« oder »Genozid«.

Unwissenheit schützt vor Strafe

Anfang Januar 2025 sollte der Mannheimer Aktivist Mahmud Abu-Odeh an der Kunstakademie Karlsruhe einen Vortrag über seine Erfahrungen in der besetzten Westbank halten. Daraufhin wurde er von Sven M. von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft bei der Hochschulleitung denunziert: M. bezeichnete Abu-Odeh in einer Mail, die jW vorliegt, unter anderem als »verurteilten palästinensischen Aktivisten und Hamas-Sympathisanten«. In Reaktion darauf zeigte Abu-Odeh Sven M. wegen Verleumdung an. Abu-Odeh hatte zwar tatsächlich in einem der vielen gegen ihn in Stellung gebrachten Verfahren verloren, das Urteil ist aber bis heute nicht rechtskräftig. Die StA Mannheim stellte das Verfahren ein. In der Begründung heißt es, dass nicht davon auszugehen sei, dass M. »als rechtlichem Laien« der Unterschied zwischen einer rechtskräftigen und einer nichtrechtskräftigen Verurteilung bekannt sei.

In einem anderen Fall führte Abu-Odehs Anzeige immerhin zu einem Gerichtsverfahren – allerdings ohne sein Wissen. Jutta Ditfurth hatte Abu-Odeh und eine Genossin von ihm mit jüdischem Background auf X zur Fahndung ausgeschrieben: Sie teilte ein Video der beiden, in dem sie darüber berichteten, dass ihnen der Zutritt zur Gedenkstätte Buchenwald wegen ihrer Kufija verwehrt worden war. Darunter schrieb Ditfurth: »Können wir herausfinden, wer die beiden Antisemiten sind?« Wenige Stunden später gab sie den Namen Abu-Odehs mitsamt dessen Arbeitsplatz und Mailadresse bekannt. Das Ziel war offensichtlich, ihn um seinen Job zu bringen, die Drohmails, die er erhielt, wurden in Kauf genommen. Dass seine Anzeige zunächst Erfolg hatte, erfuhr Abu-Odeh zwei Tage vor dem Prozess aus den Medien. Auf Anfrage bei Gericht, weshalb er nicht als Zeuge geladen sei, hieß es, dass die StA dies wohl nicht für nötig hielte. Der Grund war offenbar, dass sich Gericht, StA und Angeklagte in ihrer Haltung gegenüber dem palästinensischen Aktivisten einig waren. Der Prozess endete mit einem Freispruch.

Während also gezielte Diffamierung und öffentliche Outings von proisraelischer Seite kein Problem sind, führten Onlinepostings, die in den Krieg in Gaza verwickelte deutsche Regierungspolitiker als »Genozid-Unterstützer«, »Kindermörder« oder ähnliches bezeichneten, wiederholt zu Razzien.

Auf derselben Seite

Zwar gibt es keine systematische Erfassung antipalästinensischer Straf- und Gewalttaten, weshalb auch keine statistisch gesicherten Aussagen über Gesamtzahl, Aufklärungs- und Verurteilungsquoten gemacht werden können. Doch die hier angeführten Beispiele dürften den allgemeinen Trend widerspiegeln.

Die offensichtliche Diskrepanz zwischen der Verfolgungswut der deutschen Behörden gegenüber der einen Seite und ihrem demonstrativen Desinteresse gegenüber der anderen, kann leicht erklärt werden: Die Staatsanwaltschaften der BRD sind weisungsgebunden, das heißt, sie unterstehen dem jeweiligen Justizministerium und damit der politischen Agenda der Regierenden. Darauf wies auch die StA Berlin im vergangenen August hin: 51 deutsche Rechtsanwälte hatten sie in einem Brief aufgefordert, die maßlose Verfolgung der Parole »From the River to the Sea« endlich einzustellen. Die StA antwortete, dass sie den Anweisungen der Politik zu folgen hätte und dass die Entscheidung dort zu treffen sei. Die antipalästinensische Unterdrückungspolitik ist also das direkte Ergebnis der »deutschen Staatsräson«-Politik. Da ist die Nachsichtigkeit gegenüber prosiraelischen Straftaten nur folgerichtig, man steht eben auf derselben Seite: der Israels.

Anmerkungen

1 https://rm.coe.int/letter-to-federal-minister-of-the-interior-germany-by-michael-o-flaher/1680b64870

2 https://www.ohchr.org/en/press-releases/2025/10/un-experts-urge-germany-halt-criminalisation-and-police-violence-against

3 https://www.spiegel.de/ausland/angriff-auf-israel-das-kalkuel-der-hamas-wird-nicht-aufgehen-meinung-a-309cda73-805f-4764-86d8-7d0a7245a738

4 https://www.manager-magazin.de/politik/angriff-auf-israel-das-kalkuel-der-hamas-wird-nicht-aufgehen-a-e49686b2-a0bb-4bb7-af53-606b73a9ea76

5 https://www.youtube.com/watch?v=7nbYKeQra8Q&t=92s

6 https://aoav.org.uk/wp-content/uploads/2025/05/Explosive-Violence-Monitor-2024-.pdf?utm_source=chatgpt.com

7 https://euromedmonitor.org/en/article/6479/Lebanon:-Israel›s-deadly-pager-and-wireless-device-explosions-target-civilians,-violating-int‹l-law?utm_source=chatgpt.com

8 https://t1p.de/Dror-ZB; https://t1p.de/ShayF u. https://t1p.de/BarelK

9 https://www.hindrajabfoundation.org/posts/hind-rajab-foundation-files-war-crimes-complaint-in-germany-against-israeli-extremist-elkana-federman-for-torture-and-starvation-of-civilians

10 https://www.ecchr.eu/fall/palaestinensische-zivilisten-von-scharfschuetzen-getoetet-strafanzeige-gegen-person-aus-deutschland-eingereicht/

11 https://elsc.support/the-time-for-accountability-is-now-criminal-complaint-against-german-government-officials-for-aiding-and-abetting-israels-genocide-in-gaza/

12 https://www.palaestinaspricht.de/palaestina-klagt-an/strafanzeigeshalicar

13 https://itidal.de/staatsanwaltschaft-fahndet-nach-arye-sharuz-shalicar/

14 https://www.youtube.com/shorts/ogf9LGQW8Sk

15 https://x.com/RashadAlhindi/status/1756033614477697182

Leon Wystrychowski schrieb an dieser Stelle zuletzt am 9. September 2025 über gewalttätige proisraelische Übergriffe in der BRD: Der ­Bumerang der Barbarei.

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