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Aus: Ausgabe vom 09.09.2025, Seite 12 / Thema
Israel/Palästina

Der Bumerang der Barbarei

Fast zwei Jahre nach Beginn des Völkermords greifen Zionisten auch in Deutschland zunehmend zu Gewalt. Eine unvollständige Chronik
Von Leon Wystrychowski
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Eindeutiger lässt sich die Verharmlosung von Kriegsverbrechen wohl nicht ins Bild setzen (München, 2.8.2025)

Wer in den letzten 23 Monaten in Deutschland für die Rechte der Palästinenser auf die Straße gegangen ist, musste mit Strafanzeigen, Zensur, Jobverlust, medialer Hetze, öffentlicher Diffamierung und sogar Abschiebung rechnen. Alle kennen die Bilder aus Berlin von Polizisten, die auf Demonstranten einprügeln, sie würgen und zu Boden werfen.

Doch die Angriffe gehen längst nicht mehr nur von der Exekutive aus. Prozionistische Akteure in Deutschland sehen sich offenbar zunehmend ermächtigt, selbst Hand anzulegen. Diese Gewalt ist nicht völlig neu, eskalierte aber unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 und hat sich mit der Zeit gesteigert. Sie reicht von verbalen Attacken und Bedrohungen bis hin zu physischer Gewalt gegen Objekte und Menschen. Längst gibt es Verletzte zu beklagen, die teilweise körperlich nachhaltig geschädigt wurden.

Von Sachbeschädigung …

Gewalt gegen Objekte wird in der auf Privateigentum basierenden BRD grundsätzlich als ähnlich schlimm angesehen wie gegen Menschen: Brennende Mülltonnen bei Demonstrationen etwa stufen Parteien und Medien gerne als »Terror« ein. Behörden und konservative Politiker werden nicht müde, die »Gefahr von links« herbeizureden, und das, obwohl Rechte in Deutschland seit 1995 weit mehr als 200 Morde verübt haben – Linke dagegen genau null.

So wurde dann auch breit über propalästinensische Graffitis in Berlin berichtet, vor allem, nachdem das kurz darauf vom Bundesinnenministerium als »Hamas-Kennzeichen« eingestufte rote Dreieck auf mehreren Hausfassaden aufgetaucht war. Dabei behauptete unter anderem die »Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus« (RIAS), dass die Graffitis gezielt an Wohnhäusern, in denen Juden leben würden, angebracht worden seien. Der Wahrheitsgehalt des RIAS-Berichts wurde allerdings in einer Studie der »Diaspora Alliance«, die maßgeblich von linken Juden und kritischen Israelis getragen wird, in Frage gestellt. Dass in diesem Zusammenhang von Politik und Medien nicht nur der Begriff »Markierung« genutzt, sondern zugleich auch betont wurde, das rote Dreieck sei seinem Aussehen nach dem roten Winkel ähnlich, verstärkte den Eindruck antisemitischer Symbolik. Geflissentlich wurde dabei allerdings »übersehen«, dass die Nazis mit dem roten Winkel politische – vor allem kommunistische – Häftlinge in den KZ kennzeichneten, die Inhaftierten sich das Symbol jedoch später aneigneten und zum antifaschistischen Symbol umdeklarierten.

Abgesehen von wenigen Ausnahmen schafften es Sachbeschädigungen, die sich gegen Palästinenser und ihre Unterstützer richten, bislang kaum in die deutschen Mainstreammedien. Bereits unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 wurde in Duisburg die Fassade des Vereins »Solidarität International« besprüht, weil dort eine Veranstaltung mit dem damaligen Deutschland-Koordinator von »Samidoun« stattfinden sollte. Genau ein Jahr später wurde die gesamte Schaufensterfassade des Vereins in Duisburg mit Aufklebern zugekleistert.¹ In Leipzig fand ebenfalls im Oktober 2023 ein Angriff auf das migrantische Hausprojekt »Casa« statt: Die Täter zerschlugen Scheiben und hinterließen Gläser mit Schweinefett, was klar auf einen antimuslimischen Hintergrund verweist. Anschließend erschien auf Indymedia ein Bekennerschreiben unter dem Titel »Antifa heißt Antisemit:innen angreifen!«²

Aber nicht nur politische und kulturelle Einrichtungen wurden Ziel solcher Attacken. Aus Duisburg, Halle (Saale) und München etwa berichten Aktivisten, dass ihre Haus- und teilweise auch ihre Wohnungstüren, ihre Klingelschilder und Briefkästen mit Stickern beklebt wurden. Eine der Betroffenen ist Zahra aus München, die in verschiedenen Palästinainitiativen aktiv ist. »Mein Name wurde auf dem Klingelschild mehrfach durchgestrichen, es wurde ein Sticker angebracht, worauf stand: ›Hier wohnt ein Hamas-Fan‹ und auch meine Hausfassade wurde mehrfach mit ›Fuck Hamas‹, Davidsternen usw. beschmiert«, berichtet sie gegenüber junge Welt. Bei Alex, einem Aktivisten aus Halle, wurde der Arbeitsplatz ausfindig gemacht und mit Aufklebern markiert. Auch er weiß von Graffitis an den Wohnhäusern von Palästina-Aktiven in seiner Stadt. In einer Stellungnahme des »Komitees gegen das Verbot von Palästina-Solidarität Duisburg (PSDU)« vom Oktober 2024 heißt es, dass auch Leute, die mit Aktivisten nur verwandt seien oder lediglich denselben Nachnamen trügen, von derartigen »Einschüchterungsversuchen« betroffen gewesen seien.³

Zahra erzählt, dass auch ihr privates Auto Ziel von Vandalismus gewesen sei: »Es wurden Israel-Sticker darauf geklebt. Außerdem wurde der Lack zerkratzt und der Kotflügel zertreten.« Ähnliches berichtet auch Thomas Zmrzly vom »Duisburger Netzwerk gegen rechts«: »Wir wissen von einem Fall, wo Zionisten an der Hausfassade hochgeklettert sind, um eine aus dem Fenster hängende Palästina-Fahne im ersten Stock abzureißen. Später sind sie ins Treppenhaus eingedrungen und haben es vollgestickert. In einem anderen Fall wurden einem Genossen die Reifen zerstochen.« Im baden-württembergischen Langenau wurde der Aktivist Ulrich Eckles Opfer von fünf Einbrüchen innerhalb kürzester Zeit: Der Täter zerstörte vor allem Palästina-Banner und richtete einen Schaden von 20.000 Euro an. Obwohl der mutmaßliche Einbrecher gefasst wurde, stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein, weil »kein öffentliches Interesse« an einer Strafverfolgung bestehe.

über Gewaltverherrlichung …

Ob im Fall Juan L. ausreichend »öffentliches Interesse« besteht, wird sich noch zeigen. Die FU Berlin zeigte den Mitbegründer von »Jewish Life Berlin« (JLB), der zum Tatzeitpunkt auch Vizepräsident der Organisation war, nach politischem Druck im Frühjahr 2024 an. Er hatte auf einer prozionistischen Kundgebung im Februar in Richtung einer propalästinensischen Versammlung auf Hebräisch gesungen: »Hört gut zu, ihr Terroristen, mögen eure Dörfer brennen!«⁴ Eine in Israel oft gehörte Parole. Trotzdem distanzierten sich einige deutsche zionistische Organisationen schnell, JLB schloss Juan L. aus. Die Leitmedien verschwiegen den Fall weitgehend.

Israels Terroranschläge im Libanon mittels präparierter Pager im September 2024 wurden dagegen von vielen deutschen Zionisten offen gefeiert. Nicht nur die Springer-Presse frohlockte über den Tod und die Verstümmelung zahlreicher Menschen und behauptete faktenwidrig, dass ausschließlich Hisbollah-Kämpfer getroffen worden seien. Die Anschlagsserie inspirierte auch zu menschenverachtenden Anspielungen. So heißt in einem Post der Gruppe »Seeds of Palestine«, dass im Rahmen einer Nakba-Mahnwache im Oktober 2024 »Israelfans« einer Hidschab tragenden Frau, die ihrem Kind gerade ein Eis gekauft hatte, »zuriefen, sie hätte von dem Geld besser einen ›Pager‹ kaufen sollen«⁵. In Halle klebten »Antideutsche« Plakate, auf denen die Pager-Anschläge gefeiert wurden.

Generell zeichnet sich die Propaganda deutscher Israel-Fans schon lange durch extremen Militarismus und Gewaltverherrlichung aus. So gehören etwa Sticker mit dem Logo der IDF, mit Abbildungen von »Merkava«-Panzern, Abschussrampen für Raketen und israelischen Soldaten, die in zerstörten Moscheen in Gaza posieren, zum Standardrepertoire der »Antideutschen«.⁶ Um nur ein weiteres Beispiel zu nennen: Weniger berühmt als viel mehr berüchtigt – zumindest in einigen Kreisen – ist ein Post des rechten Blogs Ruhrbarone von 2018: »Transform Gaza to Garzweiler«.⁷ Selbst Meron Mendel von der »Bildungsstätte Anne Frank« erkannte darin eine »explizite Vernichtungsfantasie«.⁸

Allerdings merken die klügeren Köpfe des deutschen Zionismus durchaus, dass solche Auswüchse der menschenverachtenden Ehrlichkeit dem ohnehin schon schlechten Image Israels noch weiter schaden. Jahrelang feierten »antideutsche« Kreise ein Transparent der zionistischen Kleinstgruppe »Thunder in Paradise« (TIP), mit dem diese gegen die 2017 in Frankfurt stattfindende Konferenz des »Koordinierungskreises Palästina Israel« (KOPI) Stimmung machte. Auf dem Banner war ein Gesicht in den Farben der palästinensischen Flagge abgebildet, der Mund wurde von einer Hand zugehalten, auf der in weiß-blau das Kürzel TIP stand. Daneben prangte der Aufruf: »Palästina halt’s Maul!«⁹ Als im vergangenen Juli in München die Gruppe »Palästina spricht« eine Kundgebung unter dem Motto »Israel hungert Gaza aus« organisierte, traten die Gegenprotestler mit einem eigenen »Palästina halt’s Maul«-Transparent auf. Darauf war ein augenzwinkernder Cartoon-Netanjahu zu sehen, der gerade in eine Wassermelone beißt. Selbst der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck (Grüne), sah sich genötigt, sich von dieser Aktion zu distanzieren.¹⁰

Auch auf anderen Demonstrationen sind mittlerweile zunehmend IDF- und Mossad-Fahnen zu sehen. In Mannheim zeigten Demonstranten Anfang August eine Fahne der »Golani-Brigade«, eine der bekanntesten Einheiten der IDF, deren Angehörige an zahlreichen Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein sollen. Die Provokation dürfte kalkuliert gewesen sein: Nur wenige Tage zuvor waren zwei israelische Soldaten in Belgien festgenommen worden. Die beiden waren mutmaßlich an Kriegsverbrechen einer anderen Brigade, der »Givati-Brigade«, beteiligt; sie waren von der »Hind-Rajab-Stiftung« aufgespürt und angezeigt worden.

… und Drohungen …

Wie der erwähnte Fall mit der Mutter und dem Kind aus Bremen zeigt, ist der Schritt von der Verherrlichung von Gewalt gegen die als »minderwertig« abgestempelten Menschen in Westasien zu Gewaltandrohungen gegen Araber, Muslime und Palästina-Aktivisten in Deutschland nicht weit. Mitte April 2024 ging ein Video viral, das einen älteren Mann in einer Berliner U-Bahn-Station zeigt, wie er sich mit der Hand über die Kehle fährt. Diese Gebärde richtete er an eine Frau mit Hidschab und Kufija.¹¹ Von derartigen »Kopf ab«-Gesten berichten zahlreiche Palästina-Aktivisten aus verschiedenen Städten.

Einen Monat später griff auf dem Duisburger Campus der Universität Duisburg-Essen ein »Antideutscher« mit Sturmhaube einen Palästina-Stand an und versuchte, eine Fahne zu entwenden. Als das misslang, bedrohte er die Umstehenden und ihn Filmenden mit Pfefferspray.¹² Im Dezember 2024 drohte in Langenau ein Mann aus seinem Fenster heraus einer Palästina-Demo mit einer Handfeuerwaffe, die sich später als Schreckschusspistole herausstellte.

In Halle wiederum soll in letzter Zeit ein bekannter Zionist wiederholt Menschen bedroht haben. »Ich weiß von mindestens drei Fällen«, berichtet der bereits erwähnte Aktivist Alex. »Der Typ hat abends Leute abgepasst, verfolgt, teilweise festgehalten und bedroht.« Der Täter soll ein nichtjüdischer Deutscher sein, der sich 2024 erfolglos bei der IDF beworben hatte, um am Völkermord im Gazastreifen aktiv teilnehmen zu können.

… bis zu Angriffen

Als der zionistische Aktivist Lahav Shapira in Berlin verprügelt wurde, berichteten sämtliche deutsche Leitmedien ausführlich. Schließlich war das bis vor kurzem der einzige Fall körperlicher Gewalt, aus dem ein »Beweis« für die angebliche Gefährlichkeit des seit Jahren herbeiphantasierten »israelbezogenen Antisemitismus« konstruiert werden konnte. Jüngst kam noch die Auseinandersetzung zwischen der rechten Gruppe »Honestly Concerned« und Umweltaktivisten in Frankfurt am Main hinzu: Tagesschau bis Jungle World sprachen von einer »Farbattacke auf jüdische Aktivisten«.

Fast völlig ignoriert werden dagegen die zunehmenden physischen Angriffe auf Palästinenser und Palästina-Aktivsten. Dabei lässt sich anhand der im Folgenden zusammengetragenen unvollständigen Liste von Fällen feststellen, dass es spätestens ab März 2024 zunehmend zu Angriffen von seiten zionistischer Akteure auf Leib und Leben von Palästinensern und propalästinensischen Aktivisten in der BRD kam.

Am Rande des Ostermarschs 2024 soll ein Reporter der Ruhrbarone zwei migrantische Frauen mit Kufija angegriffen haben, so dass sie mit Verletzungen am Kopf und im Gesicht im Krankenhaus behandelt werden mussten.¹³ Die Behörden stellten die Ermittlungen ein. Am 30. April griffen »Antideutsche« eine linke 1. Mai-Vorabenddemo in Halle an.¹⁴ Im Mai soll in Langenau ein Mann versucht haben, zwei Teilnehmer einer Mahnwache mit dem Auto anzufahren.¹⁵ Ende desselben Monats machte in Jena ein Teilnehmer eines zionistischen Gegenprotestes zunächst die »Kopf ab«-Geste in Richtung einer Palästina-Kundgebung und warf dann eine volle Bierdose auf die Versammlung.¹⁶

»In München gehört es für uns längst dazu, dass wir bei unseren Infoständen beschimpft, angespuckt, geschlagen, getreten oder mit Klopapier beworfen werden«, erzählt Zahra. Tatsächlich scheint die Stadt mittlerweile eine Hochburg zionistischer Gewalt zu sein. Anfang August wurde das dortige Palästina-Camp angezündet. Der Brandstifter hatte die Tat offenbar geplant: Er sei zuvor mehrfach im Camp gesehen worden, berichtet Abdelrahman, der damals vor Ort war. Um kurz vor ein Uhr morgens, als die meisten Leute sich in den Zelten aufhielten, schlug er zu. Er übergoss die Banner und Fahnen, die um das Lager herum hingen, mit Benzin aus einem mitgebrachten Kanister. Wie auf einem Video zu sehen ist, zündete er dann eine mit Brennflüssigkeit getränkte Palästina-Fahne an. Innerhalb von Sekunden war das Camp von einem Feuerring eingekreist.¹⁷ Zwar wurde der Täter angezeigt, doch noch am selben Tag wieder laufengelassen. »Die Polizei hat uns damals gesagt, dass sie den Fall bislang als Sachbeschädigung einstufe«, so Abdelrahman.

Ebenfalls Anfang August wurden in Leipzig Teilnehmer einer prozionistischen Veranstaltung, die kritische Fragen gestellt hatten, körperlich angegangen. Auch Unbeteiligte, die die Szene filmen wollten, wurden attackiert.¹⁸ In Frankfurt warfen proisraelische Demonstranten im Oktober ein Ei und einen mit Urin gefüllten Beutel auf eine Palästina-Demo.¹⁹ Im November griffen Vermummte in Leipzig einen Stand der Gruppe »Students for Palestine« an.²⁰

Am 6. Juli 2025 wurde die bis dahin wöchentlich stattfindende Mahnwache in Langenau attackiert: Ein Kampfsporttrainer schlug den 75jährigen Ulrich zu Boden und trat auf ihn ein. Wie der politisch engagierte Rentner berichtet, verlor er zwischenzeitlich die Besinnung, erlitt Verletzungen am Kopf und am Bein und leidet seither an Schwindel, Kopfschmerzen und Konzentrationsproblemen. In Halle griffen am Abend des 14. Juli etwa 20 Personen fünf Teenager an, weil sie propalästinensische Musik gehört hatten. Die Angreifer sollen dem lokalen »antideutschen« Hausprojekt »Reil 78« angehören.²¹ Ende August kam es beim »System Change Camp« in Frankfurt am Main laut den Organisatoren zu körperlichen Angriffen von »Honestly Concerned«-Mitgliedern. Kurz danach wurde ebenfalls in Frankfurt ein mutmaßlicher Brandanschlag auf das »Internationalistische Zentrum« verübt, das sich zuvor propalästinensisch positioniert hatte.²²

Teil der Gewalt von rechts

Diese zunehmende »zivile« antipalästinensische Gewalt und ihre quantitative wie qualitative Zunahme kann nur erklärt werden, wenn man sich die staatliche und institutionelle Gewalt gegen Palästinenser und die Palästinasolidaritätsbewegung in Deutschland vor Augen führt. Gewalt gegen Palästinenser und ihre Unterstützer ist staatlich sanktioniert, wird von den Medien igno­riert oder gar legitimiert und ist damit gesellschaftlich gesehen akzeptiert.

Dass sich Zionisten vor diesem Hintergrund zunehmend berufen fühlen, selbst Hand anzulegen und zu Gewalt zu greifen, scheint so kaum verwunderlich. Sie handeln schließlich nicht anders als die staatlichen Schläger und im völligen Einklang mit der »Staatsräson«. Sie tun nichts Verbotenes oder Verwerfliches, sondern agieren de facto als Hilfspolizisten. Mit Strafverfolgung müssen sie nicht rechnen. Dieser Mechanismus ist auch von anderen Formen rechter Gewalt bekannt: Wenn die Regierenden und Medien ständig gegen Geflüchtete und Zuwanderer hetzen, dann nimmt auch die Neonazi-Gewalt zu: ohne »Asylkompromiss« und »Das Boot ist voll«-Kampagne kein Solingen, kein Hoyerswerda und kein Rostock-Lichtenhagen.

Tatsächlich sind die Übergänge zwischen der zionistischen und der »normalen« rechten Gewalt fließend. Aktivisten aus verschiedenen Städten bestätigen, dass sie bei Aktionen regelmäßig von Personengruppen rassistisch angefeindet werden, die klar dem deutsch-faschistischen Spektrum zuzuordnen sind. Dazu gehört auch der Hitlergruß. Von vielen Rechten werden die Palästina-Demos wohl primär als »Ausländer-Demos« wahrgenommen. Zudem ist hinreichend belegt, dass Konservative und Neurechte zu den entschiedensten Israel-Unterstützern gehören. Wie der Schweinefett-Angriff in Leipzig im Oktober 2023 zeigt, scheuen aber auch »linke« Zionisten nicht vor offenem Rassismus zurück. In Köln brachte ein Teilnehmer einer proisraelischen Kundgebung, an der auch die lokalen »Omas gegen rechts« beteiligt waren, die zionistische Querfront mit der Parole »antisemitische Ausländer raus!« auf den Punkt.²³

Unabhängig jedoch von dem politischen Bewusstsein der Akteure treffen diese Angriffe objektiv vor allem Migranten: Palästinenser, Araber, Muslime, Aktivisten mit Migrationshintergrund. Berichten zufolge sind Menschen mit dunkler Haut und schwarzen Haaren, Frauen und Hijabträgerinnen besonders häufig von Übergriffen mit Palästinabezug betroffen.

Faschisierung und Entzivilisierung

Damit ist diese »zivile« antipalästinensische Gewalt, gemeinsam mit der staatlichen Repression gegen die Palästinabewegung, in jeder erdenklichen Weise Teil der allgemeinen Rechtsentwicklung oder – um einen kontroversen Begriff zu verwenden – der Faschisierungstendenz in der BRD: Sie ist durch und durch rassistisch, Ausdruck und zugleich Verschärfung von gesellschaftlicher Verrohung und »von unten« getragener Terror, der den staatlichen Terror von oben ergänzt.

Aber selbstverständlich kann diese Analyse nur vollständig sein, wenn diese Gewalt mit der völlig normalisierten Gewalt, dem selbstverständlichen Töten von Palästinensern, aber auch Jemeniten, Libanesen oder Iranern im Nahen Osten selbst in Verbindung gebracht wird. Aimé Césaire schrieb in den 1950er Jahren, dass »jedes Mal, wenn in Vietnam ein Kopf abgeschlagen oder ein Auge ausgestochen wird (…), jedes Mal, wenn ein kleines Mädchen vergewaltigt wird und man dies in Frankreich hinnimmt, jedes Mal, wenn ein Madagasse gefoltert wird und man in Frankreich diese Tatsache akzeptiert, die Zivilisation eine weitere Last auf sich nimmt, eine allgemeine Regression stattfindet« und »dass am Ende all dieser Verträge, die gebrochen wurden, all dieser Lügen, die verbreitet wurden, all dieser Strafexpeditionen, die toleriert wurden, all dieser Gefangenen, die gefesselt und ›verhört‹ wurden, all diese Patrioten, die gefoltert wurden, am Ende all des Rassenstolzes, der geschürt wurde, all der Prahlerei, die zur Schau gestellt wurde, ein Gift in die Adern Europas injiziert worden ist und langsam, aber sicher der Kontinent in die Barbarei schreitet.«

Diese als »Bumerangeffekt« bezeichnete Dialektik zwischen Kolonialismus und »Selbstentzivilisierung« ist bis heute gültig: Man ersetze »Frankreich« durch »Deutschland«, »Vietnam« durch »Palästina« und »Madagasse« durch »Palästinenser« und man wird nicht umhinkommen, zu erkennen, dass der Gaza-Genozid nicht nur den zionistischen Faschismus am Leben hält, sondern auch den deutschen ungemein befruchtet.

Anmerkungen:

1 https://solidaritaet-international.de/unverschaemt-antideutsche-bekleben-unser-buerofenster-mit-gegen-jeden-antisemitismus

2 https://www.instagram.com/p/CyyjtdGs_gF

3 https://www.psdu-verbot.info/blog/einschchterungsversuche-durch-zionistische-gruppen

4 https://x.com/RashadAlhindi/status/1756033614477697182

5 https://www.instagram.com/p/DBONx4puRpA

6 https://thediasporist.de/stickers-against-germany/

7 https://www.melodieundrhythmus.com/mr-4-2019/springers-hurensoehne/

8 https://www.fr.de/kultur/tv-kino/cancel-culture-debatte-bei-kurzfilmtagen-oberhausen-das-gespenst-der-widerspruchsfreiheit-93047208.html

9 http://www.arbeiterfotografie.com/galerie/reportage-2017/2017-06-09-frankfurt-kopi-50-jahre-besatzung/2017-06-09-af-0516.jpg

10 https://x.com/Volker_Beck/status/1951347871611052309

11 https://t.me/theredstream/8199

12 https://www.instagram.com/palestine.at.ude/reel/C68ljkZiDAu/

13 https://www.jungewelt.de/artikel/472561.ostermarsch-in-duisburg-übergriff-wegen-gaza.html

14 https://www.instagram.com/reel/C6e8FCMsn5M/

15 https://www.unsere-zeit.de/anti-palaestinensische-hetze-und-gewalt-in-langenau-4805849/

16 https://www.instagram.com/reel/C7uUqaFCvp3/?igsh=MXJ6d3h1NG45MWo3cQ==

17 https://www.youtube.com/shorts/ogf9LGQW8Sk

18 https://www.instagram.com/reel/C-V1AOMMky3/

19 https://vorsprung-online.de/frankfurt/254753-frankfurt-ei-und-urinbeutel-fliegen-auf-pro-palästina-demo.html

20 https://www.instagram.com/reel/DBzl-H-sGdb/?igsh

21 https://perspektive-online.net/2025/07/zionistischer-ueberfall-in-halle-20-zionistinnen-greifen-antifaschistische-jugendliche-an

22 https://www.jungewelt.de/artikel/506830.proisraelische-provokationen-hetze-schläge-feuer.html

23 https://x.com/i/status/1786483566496346470

Leon Wystrychowski hat Geschichte, Orientalistik, Arabistik und Islamwissenschaft studiert und war bei der im Mai 2024 illegalisierten Palästina-Solidarität Duisburg aktiv.

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