»Das Ziel ist es, den Libanon zu schützen«
Von Hüseyin Doğru
Am 27. November 2024 trat das Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und dem Libanon in Kraft, das die Kämpfe zwischen der israelischen Armee und der Hisbollah beendete. Inwieweit wird dieses Abkommen eingehalten?
Wenn wir die Umsetzung des Abkommens benoten müssten, würden wir der Hisbollah neun von zehn Punkten geben. Für den zionistischen Feind wäre es hingegen genau umgekehrt. Es wird nicht nur keine einzige Klausel umgesetzt, sondern es wird auch beharrlich gegen dieses Abkommen verstoßen, beharrlich die Aggression fortgesetzt, beharrlich getötet, und es werden beharrlich brutale Angriffe verübt. Wir würden ihm eine Note unter null geben – minus neun von zehn.
Hat die Hisbollah, wie in dem Abkommen vorgesehen, das Gebiet südlich des Litani-Flusses entmilitarisiert?
Alle, einschließlich der libanesischen Armee und des Premierministers Nawaf Salam, der diese Operationen beaufsichtigt, bestätigen, dass die südliche Litani-Region entmilitarisiert wurde und unter der Kontrolle der Armee steht. Der Präsident bestätigte kürzlich, dass die Armee sich mit dem Widerstand (der Hisbollah, jW) abstimmt, und zwar vollständig.
Dennoch besteht Israel weiterhin auf einer entmilitarisierten Zone?
Israelis oder Amerikaner brauchen keinen Grund, um ihre Aggressionen durchzuführen. Wir setzen um, was in der Resolution 1701 gefordert wird, aber dieser israelische Feind hat nie eine Entscheidung der UNO oder des Sicherheitsrats umgesetzt. Als Israel in den Libanon einmarschierte und die Resolution 425 verabschiedet wurde, die den Rückzug der israelischen Streitkräfte forderte, wurde das zwölf Jahre lang nicht umgesetzt, erst am Ende durch Gewalt, infolge von Widerstand.
Zielt Israel also auf die vollständige Auslöschung der Hisbollah als politische und nicht nur als militärische Kraft?
Netanjahu hat erklärt, dass das Ziel »Groß-Israel« ist – vom besetzten Palästina bis zum Irak, Saudi-Arabien, Syrien, Libanon, Jordanien und Ägypten. Jeder Widerstand gegen dieses von Israel und den USA angeführte Projekt wird als Feind betrachtet. Israel behauptet, dass sein Hauptziel der Widerstand sei. Aber es ist der Libanon als Staat – seine Wirtschaft, seine Politik, sein soziales Gefüge mit seinen verschiedenen Gruppen und Sekten –, durch den sich der zionistische Feind herausgefordert sieht. Dieser Feind interessiert sich nicht dafür, ob jemand Muslim, Sunnit, Christ oder Schiit ist. Er will, dass der gesamte Libanon unter seiner Kontrolle steht. Wir wissen, warum er den Flughafen bombardiert, die Häfen von Tripolis und Beirut, die Binnenmärkte als Transitkorridor für arabische Länder ins Visier nimmt.
Rechnen Sie mit einer erneuten israelischen Aggression?
Man kann diesem israelischen Feind nicht trauen. Wie viele Aggressionen und Angriffe hat dieser Feind seit 1948 gegen arabische Länder, insbesondere den Libanon, unternommen? Wir vergessen nicht die Massaker von Hula und die Massaker in Palästina seit 1948, als es weder die Hisbollah noch den Widerstand gab.
Wie wird die Hisbollah reagieren, wenn die israelischen Angriffe weitergehen?
Eine unserer charakteristischen Eigenschaften ist strategische Geduld. Ja, es gibt heute erneut Märtyrer. Aber wir sagen: Geduld und Unterscheidungsvermögen leiten unser Handeln.
Sehen Sie die Gefahr eines Rückfalls in den Bürgerkrieg?
Wir wollen keinen Bürgerkrieg, und wir sind stolz darauf, dass wir nach dem Krieg in Syrien 2011 einen konfessionellen Bürgerkrieg im Libanon verhindert haben. Wir waren ein besetztes Land, und wir haben gegen diesen israelischen Feind gekämpft, um unser Land zu befreien. Das Ziel des Widerstands ist es, den Libanon zu schützen und zu verteidigen, denn wir sind Teil dieses Landes.
Wie reagiert die Hisbollah auf die Forderung der libanesischen Regierung nach Entwaffnung?
Bei der Anwendung der Resolution 1701 beziehen wir uns auf die Vereidigungsrede und die Erklärung der Regierung, in der es heißt: »Der Libanon hat das Recht, seine Grenzen, sein Land, seine Souveränität und seine Unabhängigkeit mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.« Gibt es heute andere Mittel als die Armee und den Widerstand? Doch es ist jedem Land verboten, dem Libanon Waffen zu liefern, die gegen den zionistischen Feind eingesetzt werden könnten. Und die USA sagen, dass sie die libanesische Armee bewaffnen wollen, um den Widerstand der Hisbollah zu bekämpfen. Die Libanesen müssen sich also zusammensetzen und sich einig werden, wie wir unsere Waffen einsetzen, um dieses Land gemeinsam zu verteidigen. Wir sprechen hier vom gesamten Libanon. Wenn Dahieh betroffen ist, wird das auch der Rest des Landes zu spüren bekommen. Wenn Jouni betroffen ist, wird auch Dahieh betroffen sein. Wenn Dahieh betroffen ist, wird Hermel betroffen sein.
Washington hat eine Frist zur Entwaffnung der Hisbollah bis Ende des Jahres gesetzt. Fürchten Sie Sanktionen?
Fragen Sie das gesamte libanesische Volk! Sie können von einer wirtschaftlichen, sozialen, politischen, diplomatischen Belagerung sprechen, von der Gefahr von Massakern – von Krieg gar nicht erst zu reden. Wir sind ein Volk, das daran gewöhnt ist. Vor allem ordnen wir uns nicht unter. Dies ist unser Land, unser Volk, unser Leben, unsere Existenz. Sich heute den Amerikanern oder Israelis zu unterwerfen, bedeutet, dass man seinem Feind den Hals hinhält, damit er ihn abschneiden kann. Wir sind ein Volk, das etwas anderes gelernt hat, und in unseren Köpfen gibt es kein Wort, das Nachgeben oder Unterwerfung bedeutet.
Kürzlich hat der deutsche Außenminister Johann Wadephul Beirut besucht. Will Deutschland eine aktive Rolle im Libanon spielen?
Jeder, der kommen möchte, ist willkommen, aber es gibt eine Vereinbarung, es gibt einen Ausschuss aus fünf Akteuren, den sogenannten Überwachungsmechanismus, und es gibt die Resolution 1701. Es besteht keine Notwendigkeit, dass Delegationen hin und her reisen.
Wie sieht Ihre politische Vision für die Zukunft des Libanon aus?
Der Libanon ist in seiner Form weltweit einzigartig. Wir müssen diese nationale Einheit schützen, dieses System, das das Land vereint, das jeden Bürger mit seinen Mitbürgern vereint. Es stimmt, dass wir ein Land der Sekten sind. Mögen diese Sekten ein Segen für den Libanon sein. Durch unsere Einheit, unsere Verbundenheit und unsere Fähigkeiten können wir das Land aufbauen, so wie wir nach 2006 den Süden, Dahieh, wieder aufgebaut haben.
Früher forderte die Hisbollah eine islamische Republik im Libanon. Verfolgt die Partei immer noch dieses Ziel?
Vor langer Zeit sprach Sayed (Nasrallah, jW), möge Gott seine Seele segnen, darüber. Der Libanon ist ein Land für alle seine Kinder.
Ist die Hisbollah noch primär eine schiitische Bewegung, oder ist sie zu einer libanesischen Partei geworden?
Wenn Sie heute eine Umfrage durchführen, werden Sie feststellen, dass ein großer Prozentsatz der Libanesen, die einst eine zögerliche Haltung gegenüber der Hisbollah und dem Widerstand hatten – darunter sunnitische Brüder, Christen oder Drusen, und ich spreche nicht von Politikern, sondern von normalen Bürgern –, in ihren Herzen den Widerstand unterstützen. Denn sie wissen, dass dieser Widerstand Tausende von Märtyrern und Verwundeten gefordert hat, damit dieses Land bestehen bleiben kann und damit die Menschen mit erhobenem Kopf in diesem Land bleiben können.
Hat die Hisbollah angesichts des Pager-Angriffs oder der Tötung ihres Generalsekretärs Hassan Nasrallah die militärischen und geheimdienstlichen Fähigkeiten Israels unterschätzt?
Es besteht kein Zweifel, dass es Schäden gegeben hat. Allein der Pager-Anschlag war eine teuflische Operation, die erste ihrer Art in der Geschichte der Kriege. Gott sei Dank konnten viele Menschen inzwischen zu ihrer Arbeit und ihren Aufgaben zurückkehren. Viele von ihnen arbeiten in Büros, Krankenhäusern, in der Pflege oder in kommunalen Diensten. Die Führung des Widerstands – politisch, sozial oder militärisch – hat die Schwachstellen identifiziert, an denen diese Sicherheitslücken auftraten, und baut sie wieder auf.
Befindet sich die Hisbollah nach diesen Anschlägen gegenwärtig in ihrer schwächsten Phase?
Im Gegenteil. Heute ist die Hisbollah politisch, sozial, wirtschaftlich, gesundheitlich, in jeder Hinsicht stark. Ich mische mich nicht in militärische Angelegenheiten ein, weil ich nicht viel darüber weiß. Es gab schwere Schläge, wir haben viel verloren. Aber wissen Sie, was das Martyrium von Sayed den Libanesen, der Jugend der Partei und den Familien der Märtyrer gegeben hat? Es hat ihnen unglaubliche Kraft gegeben, weiterzumachen. Die Israelis dachten, dass sie mit dem Märtyrertod von Sayed die Hisbollah stoppen könnten. Die Liebe zu Sayed, zu Sayed Haschem und zu allen Kommandanten und Märtyrern hat eine positive Reaktion hervorgerufen, die weit größer war als die erwartete negative Reaktion.
Inwieweit plant die Hisbollah, ihre militärischen, politischen und sozialen Strukturen in Reaktion auf diese Anschläge zu reformieren?
Sie arbeitet an all diesen Punkten, sie arbeitet innerhalb des Ministerrats und der Regierung. Sie hat viele soziale, wirtschaftliche, gesundheitliche und politische Forderungen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Hisbollah als Antwort auf diejenigen entstanden ist, die das libanesische Volk in Armut stürzen wollen, als Antwort auf diejenigen, die das Volk hungern lassen.
Wenn Sie von Widerstand sprechen, meint das heute primär bewaffneten Kampf?
Zunächst einmal beginnt Widerstand im Herzen. Dann kommt er durch Handlungen zum Ausdruck. Er beginnt im Krankenhaus, auf der Straße, im Auto, an jedem Ort. Widerstand bedeutet, sich dem Bösen zu widersetzen. Sich der Ungerechtigkeit zu widersetzen. Sich sogar in Gedanken zu widersetzen. Intellektueller und kultureller Widerstand gehören zu den wichtigsten Formen des Widerstands. Wenn Sie sich nicht mental und intellektuell widersetzen, bedeutet das, dass Sie eines Tages verlieren werden. Bewaffneter Widerstand dient dazu, diesen kulturellen und intellektuellen Widerstand zu verteidigen.
Ali Al-Mekdad (geb. 1961 in Magne) ist seit 2009 Abgeordneter im libanesischen Parlament für den Bezirk Baalbeck/Hermil. Er gehört der Fraktion der schiitischen Hisbollah (»Partei Gottes«) an
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