Rotlicht: Behemoth
Von Marc Püschel
Das Faschismusverständnis des Durchschnittsbürgers ist nicht sehr komplex. In der Regel lässt es sich reduzieren auf: Je mehr Staat, um so faschistischer. Denn Staat bedeutet schließlich zentralisierte Macht und damit Unterdrückung. Der Gedanke ist so plump wie eingängig – und nützlich, gerade für das Kapital. Denn fasst man den Faschismus nur von der Seite der staatlichen Macht aus, dann kann der Abbau staatlicher Strukturen per se nicht faschistisch sein. Liberale können sich dann sogar in eine antifaschistische Schale werfen. Zudem erleichtert es ihnen die Gleichsetzung des Sozialismus mit dem Faschismus.
Dass es so simpel nicht ist, hat Franz Neumann (1900–1954) in seiner Schrift »Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944« klargestellt. Der Soziologe, der als Student an der Novemberrevolution 1918/1919 teilnahm und wegen seiner jüdischen Abstammung 1933 emigrieren musste, arbeitete Ende der 1930er Jahre am gleichfalls exilierten Institut für Sozialforschung in New York. Dort verfasste er 1941/42 seine berühmte »Behemoth«-Schrift, bevor er später unter anderem bei der Entnazifizierung half und Anklageschriften für die Nürnberger Prozesse verfasste.
Mit der Titelgebung lehnte sich Neumann an Thomas Hobbes an. Wie das Seeungeheuer Leviathan (und das weniger bekannte Vogelwesen Ziz) ist der Behemoth ein Ungeheuer aus der jüdischen Mythologie. Dort wird er in verschiedenen Tierformen, aber immer als besonders mächtiges Landtier, vorgestellt. Im Talmud wird beschrieben, wie Gott ihn und den Leviathan zur Bestrafung der Menschen schickt, am Ende der Welt beide jedoch selbst besiegt. Hobbes nutzte den Leviathan in seiner gleichnamigen politphilosophischen Schrift von 1651 als Symbol für staatliche Allmacht. Die im Naturzustand sich alle gegenseitig bekämpfenden Menschen treten im Gesellschaftsvertrag ihre Rechte ab und gewinnen dafür vom Staat hergestellte Sicherheit. Weniger bekannt ist, dass Hobbes auch einen »Behemoth« schrieb. In dieser historischen Abhandlung des Englischen Bürgerkriegs von 1642 bis 1649 versinnbildlicht das mythische Ungeheuer den chaotischen Naturzustand, in dem permanente Gewalt herrscht.
An diese etwas willkürlich aus der Mythologie herausgeklaubte Symbolik knüpfte Neumann an. Sein »Behemoth« charakterisiert die Naziherrschaft als »Unstaat«. Der totale Staat sei Fassade, dahinter herrsche extreme Strukturlosigkeit. Die Gewaltenteilung wird abgeschafft, untere Verwaltungsebenen werden aufgelöst, Parteigliederungen treten neben die staatlichen Strukturen, ohne jedoch eine klare Zuteilung von Kompetenzen erkennen zu lassen. Der Führerkult überdeckt, dass die Nazis über keinerlei kohärente politische Theorie verfügen.
Neumann an-alysierte das »Dritte Reich« als Klassenherrschaft, die auf den vier Säulen Militär, Bürokratie, Kapitalisten und Partei ruht. Diese verfolgen jeweils noch eigene Machtinteressen, doch gibt es keine klare Instanz mehr, durch welche sie sich vermitteln lassen. Ad-hoc-Absprachen ersetzen institutionalisierte Abläufe, der Staatsapparat löst sich im Laufe der 1930er und 1940er Jahre zunehmend auf und macht einer strukturellen Anarchie Platz. Rezipienten von Neumanns Werk bezeichneten dies später auch als »totalitären Pluralismus«. Die Menschen, die einem solchen Gewaltzustand ausgesetzt sind, werden quasi wieder in den Naturzustand versetzt. In der diffusen Verteilung von Zuständigkeiten und Machtzentren weiß niemand mehr, an wen man sich wenden kann; der Widerstand kann kaum noch sinnvolle Ziele ausmachen.
Neumanns bahnbrechende Studie, die aufgrund seiner Nähe zum Marxismus und zur Kritischen Theorie lange vernachlässigt wurde, ist zur Einschätzung der Gegenwart immer noch relevant. Denn Faschismus ist nicht schlicht nur dort, wo die Staatsmacht gestärkt werden soll, sondern kann auch dort zu verorten sein, wo politische Bewegungen staatliche Strukturen abbauen, scheinbar »liberalisieren« wollen – und damit Menschen in eine Rechtlosigkeit stürzen, gegen die es keine Gegenwehr gibt.
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