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Aus: Ausgabe vom 19.11.2025, Seite 11 / Feuilleton
Rock ’n’ Roll

Radikalität und Eingängigkeit

Motörhead – die schlechteste Band der Welt
Von Frank Schäfer
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»Klar erkennen mich viele Leute, aber mir wäre es fast lieber, wenn sie alle auch das neue Album kaufen würden« – Lemmy Kilmister

Die Gruppe Motörhead wurde 1975 in London von Lemmy Kilmister gegründet. Frank Schäfer geht in der Serie »50 Jahre Motörhead – die schlechteste Band der Welt« dem sehr lauten Rock-’n’-Roll-Phänomen auf den Grund.

»Du gehst raus, gibst dein Bestes, legst eine professionelle Arbeitsweise an den Tag und hoffst, dass es anderen Leuten gefällt. Außerdem solltest du verdammt noch mal Spaß dabei haben«, erklärt Lemmy Steffan Chirazi vom Kerrang!. Der Weg ist längst das Ziel.

Motörhead nutzen die tourfreien Monate, um an neuen Songs zu arbeiten, und probieren »No Voices in the Sky«, »Going to Brazil« oder »The One to Sing the Blues« anschließend auf der Bühne aus. Die durch diverse Rechtstreitigkeiten erzwungene Studiopause hat insofern nicht bloß Nachteile. Das neue Material erhält dadurch erst seinen richtigen Schliff, dass Motörhead Nacht für Nacht daran schmirgeln. Was sich auf der Bühne bewährt, kann im Studio nicht ganz verkehrt sein.

Ihr neuer Manager Phil Carson streckt seine Fühler aus und kann den Branchenriesen Sony für seine Schützlinge erwärmen. Carson führt sich also gleich mal ein mit einem Major-Deal. Ihr erster und, wie sich herausstellt, auch letzter. Zunächst mal scheint die Pechsträhne vorbei zu sein. Sony räumt ihnen ein üppiges Produktionsbudget ein, also ziehen sich Motörhead für die nächsten Monate zurück in die Sunset Sound Studios, Hollywood, um endlich wieder ein neues Album aufzunehmen. Man holt Ed Stasium als Produzenten ins Boot, der sich in der Vergangenheit jedenfalls bei Lemmy durch die Ramones-Alben »Road to Ruin« und »It’s Alive« Meriten erworben hat. Doch die Chemie scheint nicht zu stimmen zwischen ihnen. Sie nehmen ein paar Songs auf, aber als Stasium bei dem Retrorocker »Going to Brazil« heimlich Rumbahölzer und ein Tambourin untermischt, überkommt Lemmy wohl die Angst, dass er ihnen den Biss rauben könnte, und zieht die Reißleine. Ihn ersetzt Peter Solley, der ist Engländer, gehört zu Lemmys Alterskohorte, hat schon mit Procol Harum gespielt und als Produzent mit Eric Clapton, Peter Frampton und Ted Nugent gearbeitet, sie sprechen dieselbe Sprache.

Vielleicht liegt es daran, dass »1916« so vollends überzeugt – und zwar alle, Fans wie Kritik. Sogar die Mainstreamjournaille, die hellhörig geworden ist durch die medienwirksame Kollaboration mit Sony, schenkt dem Album positive Beachtung. Bisweilen klingen die Rezensionen so, als sei man fast erleichtert, mal wieder etwas Positives über Motörhead schreiben zu können. »Endlich! Das Motörhead-Album, auf das ich und unzählige Fans seit den glorreichen Tagen von ›Ace of Spades‹ und ›Iron Fist‹ so sehnsüchtig gewartet haben«, schreibt Don Kaye im Kerrang!. »Nachdem Motörhead die rechtlichen Streitereien hinter sich gelassen haben und zum ersten Mal mit einem vernünftigen Budget arbeiten konnten, liefern sie ein Album ab, das nicht nur einen vorderen Platz in der Motörhead-Saga belegt, sondern auch zu den allerbesten Rock-’n’-Roll-Veröffentlichungen des Jahres gezählt werden muss!« Der Rolling Stone stimmt ein in das Lob und konzediert, das Album schaffe es »wie nie zuvor Radikalität und Eingängigkeit zu vermischen« und somit dem Genre »eine neue Schärfe zu verpassen«.

Das stimmt. Der Gesamtsound ist so saturiert und rund, so beinahe hollywoodesk ausproduziert, dass die typischen Banger, die das Album eröffnen, »The One to Sing the Blues« mit Taylors rumpelndem Doublebass-Spiel und das über beide Backen grinsende Macho-Krakeele »I’m So Bad (Baby I Don’t Care)«, voll im Saft stehen. Dann kommt auch schon »No Voices in the Sky«, eins dieser Lieblingsstücke mit einem unvergesslichen Refrain, das leider schon ein Jahr später aus dem Programm fliegt, weil die beiden Rhythmusgitarristen bei den wilden Sechzehntel-Downstrokes im Gesangs-Riff offenbar an ihre Grenzen kommen. Die musikalische Aggressivität ist gut aufgehoben in den Lyrics, die einmal mehr zum Rundumschlag ausholen gegen Bigotterie und religiösen Wahn. Im 18. Jahrhundert wäre Lemmy ein guter Aufklärer geworden. »Politicians kissing babies for good luck / TV ­preachers sell salvation for a buck / You don’t need no golden cross to tell you wrong from right / The world’s worst murderers ­those who saw the light«.

Es gibt auch wieder lauten, überdrehten Chuck Berry wie in »Going to Brazil« oder in »Angel City«, das sie mit Boogie-Woogie-Piano und Saxophon liebevoll retrofizieren. Vor allem aber überrascht »1916« immer wieder durch seinen untypischen stilistischen Abwechslungsreichtum. Der Tribut-Song »R.A.M.O.N.E.S.« zum Beispiel ist nicht nur eine Eloge auf Joey, Johnny, Dee Dee und all die anderen, sondern auch musikalisch eine so authentische Hommage, dass die Ramones selbst das Plagiat nobilitieren und später in ihr Programm aufnehmen.

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