»Ich werde Gaza nie vergessen«
Von Jakob Reimann
Du liebst deine Kinder viel zu sehr, hatte eine Freundin ihr mal an den Kopf geworfen. »Man kann seine Kinder gar nicht zu sehr lieben«, konterte sie. Als Judith Bernstein am vergangenen Donnerstag verstarb, ging eine leidenschaftliche Kämpferin, Aufklärerin, Antirassistin, die ihr Leben dem Kampf gegen Antisemitismus und für die Rechte der Palästinenser widmete – und ihren beiden Töchtern. Judiths spätere Eltern waren 1935 aus Nazideutschland nach Palästina geflohen, zehn Jahre später kam in Jerusalem die erste Tochter zur Welt. Eine jüdische Palästinenserin, das erfüllte Judith immer mit Stolz.
Doch einfach war es nie. Judith war deutsch sozialisiert, ihr Lieblingsbuch war »Heidi«, und sie fühlte sich in Jerusalem immer auch fremd. Trotz ihres sonnigen Gemüts verspürte Judith zeitlebens ein latentes Gefühl von Melancholie. Weltschmerz als Lebensbegleiter. Noch in Israel kamen die Töchter Sharon und Shelly zur Welt. Diktiert hat die alleinerziehende Mutter den beiden nie etwas, sondern immer erklärt. Judith war zu ihren zwei Töchtern sehr liebevoll, ein unzertrennliches »Dreiergespann« waren sie, sagt Shelly. Verbündete. Dass Judith – über London und Paris schließlich – ins Land der Täter ging, galt zu Hause als Schande. In München trat sie der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe bei, deren Vorsitzende sie lange war. Schnell lernte sie Reiner Bernstein kennen. Die beiden wurden mehr als ein Ehepaar: ein Team und »Partners in Crime«.
Judith war eine scharfe Kritikerin des israelischen Staats und bekennende BDS-Unterstützerin. Für das Münchner politische Establishment wurde sie zum Schmuddelkind, dem später offen der Krieg erklärt wurde. Charlotte Knobloch beleidigte sie als »Gedenktäter«. Von der proisraelischen Szene wurde Judith diffamiert und auf ihren palästinasolidarischen Aktivismus reduziert, was ihre jahrzehntelange Aufklärungsarbeit zu Holocaust und Weltkrieg und ihren Kampf gegen Antisemitismus, die Gefahren von rechts und den übergriffigen Staat unterschlägt. Immer stand Judith auf der Seite der Unterdrückten, und ihren Einsatz für palästinensisches Leben begriff sie in erster Linie als Einsatz für die Menschlichkeit. Dass ihre Werte universell galten, mag Kleingeister verwirren, doch »Auschwitz kann kein Freibrief für Menschenrechtsverletzungen sein«, war ihr politisch-moralisches Credo. Über viele Jahre verlegten Judith und Rainer Stolpersteine in München. Als die beiden für dieses Engagement 2017 mit dem Preis »Aufrechter Gang« der Humanistischen Union München/Südbayern geehrt werden sollten, kämpften die üblichen Verdächtigen mit aller Kraft dagegen an. Als Reiner, ihr Kampfgenosse, starb, hat das Judith sehr geschwächt.
Ich habe Judith bei einer Gerichtsverhandlung im Oktober 2021 in Berlin kennengelernt. Zusammen mit Amir Ali, Christoph Glanz und Anwalt Ahmed Abed hatte sie sich keinen geringeren Klagegegner herausgesucht als den deutschen Staat. Die Bundestagsresolution zur Verteufelung der BDS-Bewegung sahen die vier als Frontalangriff auf ihre Grundrechte. Dass hier unter dem Vorwand des Kampfes gegen Antisemitismus die Axt an die Meinungs- und Versammlungsfreiheit gelegt wurde, war für Judith nicht hinnehmbar. Sie marschierten durch die Instanzen mit dem Ziel Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte. Und das verfolgen die trauernden Genossen weiter, verspricht Christoph, das ist »ganz in ihrem Geiste«.
»Gaza mon amour!« beginnt Judith ihren letzten Facebook-Post, nur wenige Stunden vor ihrem Tod: »Keiner spricht mehr von Gaza, aber ich werde Gaza nie vergessen und der Welt nie vergeben, dass alle zugeschaut und Gaza im Stich gelassen haben.« Sharon und Shelly werden die Trauergäste bitten, zur Urnenbeisetzung Palästina-Flaggen mitzubringen. Zum Abschied ein solches Fahnenmeer – das hätte Judith gefallen.
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