Gegründet 1947 Sa. / So., 15. / 16. November 2025, Nr. 266
Die junge Welt wird von 3063 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 15.11.2025, Seite 7 / Ausland
Chile

Chile vor Richtungswahl

Umfragen sehen linke Regierungskandidatin Jara vorn. In zweiter Runde ist Sieg der Ultrarechten wahrscheinlich
Von Frederic Schnatterer
2025-11-14T024411Z_1138608723_RC2ZVHA1QJPY_RTRMADP_3_CHILE-ELECT
Ihre Anhänger erschienen auch in Valparíso zahlreich, wo Jara ihren Wahlkampf am Donnerstag beendete

Die Zeichen stehen auf Rechtsruck, auch in Chile. Am Sonntag findet dort die erste Runde der Präsidentenwahl statt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird keiner der Kandidaten die für einen Sieg erforderliche absolute Mehrheit erreichen. Dann fiele die Entscheidung darüber, wer den gemäßigt linken Gabriel Boric als Staatschef beerben wird, erst Mitte Dezember in einer Stichwahl. Boric darf gemäß der neuen Verfassung nicht wieder direkt kandidieren. Für die Regierungskoalition tritt die frühere Arbeitsministerin mit Jeannette Jara an. Zu ihrem Wahlkampfabschluss für die Hauptstadtregion kamen am Dienstag rund 20.000 Anhänger nach Maipú, einen Bezirk am Rande Santiagos. Die Kandidatin von der Kommunistischen Partei betonte, am Sonntag stehe »ein Zukunftsprojekt für das Land« auf dem Spiel. Ihres unterscheide sich »deutlich von anderen Projekten, die Hass, Angst und Hoffnungslosigkeit in den Mittelpunkt stellen«.

Auch wenn Umfragen Jara vorne sehen, dürfte sich in einer Stichwahl einer der ultrarechten Kandidaten durchsetzen. Wer das sein wird, ist so offen wie lange nicht mehr. Von den acht Präsidentschaftsanwärtern rechnen sich drei Rechte Chancen auf das höchste Staatsamt aus. Beobachter sehen José Antonio Kast als wahrscheinlichsten Kandidaten. Er tritt zum dritten Mal bei einer Präsidentschaftswahl an. Vor vier Jahren war er mit seiner Republikanischen Partei noch an Boric gescheitert. Bei seinem Wahlkampfabschluss am Dienstag in der Movistar Arena in Santiago rief der Sohn eines deutschen Wehrmachtoffiziers seine Anhänger dazu auf, »das Land zurückzuerobern«. »Wir wollen ein Land, in dem die Verbrecher Angst haben und die Bürger sich frei bewegen können«, so Kast. Seine Kampagne baute er, wie auch die anderen Rechtskandidaten, vor allem auf dem Thema Sicherheit auf, die infolge der verstärkten Migration in Gefahr sei. Kast fordert eine Politik der »harten Hand«; die Staatsausgaben will er in den ersten 18 Monaten seiner Regierung um sechs Milliarden US-Dollar kürzen.

Zuletzt war Johannes Kaiser, der sich als libertär bezeichnet und im argentinischen Präsidenten Javier Milei ein Vorbild sieht, Kast in den Umfragen auf die Pelle gerückt. An dritter Stelle steht Evelyn Matthei von der Unabhängigen Demokratischen Union (UDI), die von den bürgerlichen Medien als Vertreterin der »gemäßigten Rechten« bezeichnet wird. In der letzten TV-Debatte vor der Wahl forderte sie am Montag »Knast oder Friedhof« für Verbrecher. Alle drei haben deutsche Wurzeln – und sie alle verteidigen die Militärdiktatur von Augusto Pinochet zwischen 1973 und 1990. Kast ist international gut vernetzt. Seine Verbindungen reichen von südamerikanischen Ultrarechten wie Milei oder Brasiliens Expräsident Jair Bolsonaro bis zur spanischen Vox-Partei oder der deutschen AfD. Der Deutsch-Chilene Sven von Storch, Ehemann der AfD-Politikerin Beatrix, arbeitete 2021 als außenpolitischer Berater von Kast.

Kaiser erklärte vor wenigen Monaten in einem Fernsehinterview, er würde einen Putsch wie den der Militärjunta am 11. September 1973 gegen die sozialistische Regierung von Salvador Allende »ohne Zweifel absolut« unterstützen. »Mit all seinen Folgen«, so Kaiser damals weiter. Auch Matthei hatte in der Vergangenheit die Opfer der Militärdiktatur als »notwendig« bezeichnet. Ihren Vater Fernando, Mitglied der Junta von Pinochet, sprach sie von jeder Verantwortung für Menschenrechtsverbrechen frei. In einer Stichwahl wird sich die Rechte gegen Jara vereinen. Das gilt als ausgemacht. Dafür reicht der Umstand, dass sie Mitglied der – in Chile heute sozialdemokratischen – Kommunistischen Partei ist. Zuletzt hatte sich die Kandidatin aktiv darum bemüht, ihr Image als Kommunistin loszuwerden. Als Arbeitsministerin erreichte sie einige Verbesserungen. So wurde der Mindestlohn leicht angehoben, die Arbeitswoche soll bis 2028 schrittweise von 45 auf 40 Stunden reduziert werden.

Insgesamt ist die Bilanz der Boric-Regierung allerdings bescheiden. 2019 war sie auf der Welle der breiten Protestbewegung gegen das neoliberale Modell ins Amt gewählt worden. Beim Referendum über eine neue und progressive Verfassung musste sie im September 2022 jedoch eine herbe Niederlage einstecken; Kast gilt als Gewinner der Abstimmung. Wirtschaftlich wiesen die vergangenen Jahre zwar hohe Wachstumsraten auf. Aber auch wenn Löhne und Einkommen anstiegen, konzentriert sich rund die Hälfte des Reichtums im Land auf ein Prozent der Bevölkerung. Chile, das nach dem Putsch 1973 zum Versuchslabor der neoliberalen »Chicago Boys« rund um Milton Friedman wurde, ist noch heute eines der ungleichsten Länder der Welt.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besondere Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Regio:

Mehr aus: Ausland