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Aus: Ausgabe vom 13.11.2025, Seite 3 / Ansichten

Selenskij angezählt

Korruptionsskandal in der Ukraine
Von Reinhard Lauterbach
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Die Nachricht ist nicht, dass die ukrainischen Antikorruptionsbehörden gegen den politisch bestens vernetzten Geschäftsmann Timur Mindich vorgegangen sind. Dass sie den ehemaligen Geschäftspartner von Wolodimir Selenskij im Visier hatten, ist mindestens seit dem Sommer bekannt. Die Durchsuchung seines offenbar verwanzten Kiewer Appartements folgte nach einer über anderthalb Jahre laufenden Abhöraktion. Unter dem Vorwand eines – echten oder inszenierten? – Wasserschadens in der Wohnung darüber, deren Eigentümer mutmaßlich auch einiges auf dem Kerbholz hatte.

Den angerichteten Schaden beziffert das Antikorruptionsbüro NABU auf bis zu 100 Millionen US-Dollar. Das ist nicht wenig, aber nur 0,1 Prozent des finanziellen Aufwands, den sich der Westen die Aufrechterhaltung der ukrainischen Volkswirtschaft in kriegstüchtigem Zustand jährlich kosten lässt. Das zeigt, dass es um Korruption als solche hier offenbar nicht geht. Dass die in der Ukraine an der Tagesordnung ist, weiß man seit der Unabhängigkeit des Landes; das kann als »eingepreist« gelten. Man mag es mitten im Krieg als besonders verwerflich finden, sich an ihm privat zu bereichern, aber das ist patriotisches Gejammere, von dem man sich bei der Analyse der Vorgänge nicht den Kopf vernebeln lassen sollte.

Eher sollte man sich von einem Adjektiv verabschieden, das jetzt mit Sicherheit wieder herauf- und heruntergebetet werden wird: dass die ukrainischen Korruptionsjäger »unabhängig« seien. Nein, sind sie nicht. Sie sind zwar vielleicht unabhängig von der ukrainischen Staatsmacht, aber durchaus nicht von deren westlichen Finanziers, die die Einrichtung und Beibehaltung dieser Institutionen der ukrai­nischen Seite abgetrotzt haben. Im Sommer drohte die EU, die finanzielle Unterstützung Kiews einzustellen, sollte Selenskij an der Unterordnung der beiden Behörden unter seine Administration festhalten.

Denn es geht bei der ganzen Affäre nicht um Timur Mindich. Es geht um Selenskij, als dessen »Kassenwart« Mindich gilt. Und Selenskij geht vermutlich Teilen seiner westlichen Unterstützer mit seiner sturen Ablehnung aller »faulen« Kompromisse zur Beendigung des Krieges inzwischen auf den Geist. Dem ukrainischen Präsidenten jedenfalls verschlug es am Montag die Sprache. Sein allabendliches Durchhaltevideo ans Volk ließ er erstmals seit unvordenklichen Zeiten ausfallen.

Und jetzt das interessanteste Detail: Mindich ist in der Nacht vor der Durchsuchung gewarnt worden und konnte die Ukraine verlassen. Nach Lage der Dinge wohl aus den Reihen der Antikorruptionsbehörde selbst. Das ist ein doppeltes Signal: Um dich, Mindich, geht es nicht in erster Linie. Obwohl es dir sicher nicht schaden wird, wenn du ein bisschen auspackst. Aber dein Chef hat seine Schuldigkeit getan und kann gehen.

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