Wahl unter Spannungen
Von Wiebke Diehl
Die zukünftige irakische Regierung hat viel zu tun: weiterhin kommt es zu regelmäßigen Stromausfällen, die Schulen sind unterfinanziert, das Gesundheitssystem ist deutlich reformbedürftig. Misswirtschaft und Korruption, die nicht zuletzt das Erbe der US-amerikanischen Besatzung im Land sind, prägen den politischen Alltag. In dieser Situation begannen am Sonntag die von den Vereinten Nationen und internationalen Wahlbeobachtern begleiteten irakischen Parlamentswahlen – die sechsten seit dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003.
Um sieben Uhr morgens öffneten 809 Wahllokale zunächst für 1,3 Millionen Angehörige der Einsatzkräfte sowie für über 26.500 Binnenvertriebene, die ihre Stimme vorab abgaben. Am eigentlichen Wahltag am Dienstag sind dann 21 Millionen Iraker in 4.051 Wahllokalen zu den Urnen gerufen. Mehr als 7.750 Kandidaten, fast ein Drittel davon Frauen, stehen für 329 Sitze im Parlament zur Wahl. Das irakische Gesetz schreibt eine Quote von 25 Prozent der Parlamentssitze für Frauen vor, neun sind für religiöse Minderheiten reserviert. Das geltende Wahlgesetz, in dem jede der neunzehn Provinzen des Irak als ein einziger Wahlbezirk fungiert, bevorzugt größere Parteien. Anders als bei den Wahlen von 2021 werden es unabhängige Kandidaten wieder deutlich schwerer haben. Im Raum stehen zudem Vorwürfe der Korruption und des Stimmenkaufs. 848 Kandidaten wurden im Vorfeld disqualifiziert.
An den vorgezogenen Abstimmungen am Sonntag beteiligten sich nach Angaben der Unabhängigen Hohen Wahlkommission des Landes mit über 82 Prozent der Wahlberechtigten weit mehr Menschen als erwartet. Beobachter hatten prognostiziert, dass die Wahlbeteiligung, die bereits 2021 mit 41 Prozent ein historisches Tief erreicht hatte, noch weiter sinken würde. Und unter der Bevölkerungsmehrheit, die erst am Dienstag ihre Stimme abgeben kann, ist die Frustration mit der politischen Klasse tatsächlich groß.
Es wird davon ausgegangen, dass die derzeit von Premierminister Mohammed Schia Al-Sudani geführte Regierungskoalition der irannahen schiitischen Parteien, die sich zum »Schiitischen Koordinationsrahmen« zusammengeschlossen haben, an der Macht bleiben wird. Der schiitische Geistliche Muqtada Al-Sadr hat seine Anhänger zum Boykott der Wahl aufgerufen, da diese »fehlerhaft« sei. Im Jahr 2021 hatte Al-Sadrs Block bei den vorgezogenen Parlamentswahlen die meisten Stimmen erhalten. Nach gescheiterten Verhandlungen über die Regierungsbildung zog er sich damals allerdings zurück. Anstelle einer angestrebten »Regierung der nationalen Rettung« kam es zu einer Pattsituation mit anderen schiitischen Parteien. Die Anhänger Al-Sadrs besetzten in der Folge zunächst die »Grüne Zone«, das Regierungs- und Botschaftsviertel in Bagdad. Nach einem friedlichen Sit-in zogen sie in Richtung des nahegelegenen Hauptquartiers der im »Schiitischen Koordinationsrahmen« zusammengeschlossenen und maßgeblich an der Zurückschlagung des sogenannten Islamischen Staats beteiligten Volksmobilisierungskräfte (Al-Haschd Al-Schaabi). Es kam zu bewaffneten Zusammenstößen, die erst beendet wurden, als Al-Sadr seine Anhänger zum Rückzug aufforderte.
Die Sorge vor Gewalt im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen steht auch jetzt wieder im Raum. Ein Kandidat kam bereits im Vorfeld durch eine Autobombe ums Leben. Die USA, die bis heute etwa 2.500 Soldaten im Irak stationiert haben, fordern von Bagdad, die Volksmobilisierungskräfte zu entwaffnen. Diese werden neben Iran, der libanesischen Hisbollah und den jemenitischen Ansarollah zur »Achse des Widerstands« gerechnet und haben wegen des Genozids im Gazastreifen sowohl Israel als auch US-amerikanische Militärbasen mit Drohnen und Raketen beschossen. Vergangene Woche erklärte Premier Al-Sudani, die Waffen könnten erst vollständig unter staatliche Kontrolle gebracht werden, wenn die US-Truppen – wie in einer einstimmig angenommenen Resolution des irakischen Parlaments im Januar 2020 gefordert – aus dem Land abzögen. Zuvor hatten die USA dem irakischen Verteidigungsminister Thabit Al-Abbasi zufolge ihre »letzte« Warnung ausgesprochen. Würden bewaffnete Gruppen »irgendwelche Operationen als Reaktion auf das durchführen, was Washington in den kommenden Tagen in der Region nahe des Irak zu tun gedenkt«, werde man zurückschlagen. Die irakische Regierung hatte im Januar 2024 für die Einstellung von Operationen gegen US-Militärbasen gesorgt, nachdem dabei drei US-Soldaten getötet worden waren.
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