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Aus: Ausgabe vom 05.11.2025, Seite 3 / Ansichten

Disparates Gesetz

Karlsruhe kippt Triage-Regelungen
Von Felix Bartels
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Teil des Berufs: Entscheidungen

Zwei Patienten, ein Chirurg. Triage gehört auch außerhalb von Pandemien zum medizinischen Alltag. In ländlichen Krankenhäusern etwa, die im Fall eines Massen­unfalls nicht schnell genug Personal und medizinische Technik heranschaffen können. Mitunter müssen Ärzte entscheiden, welchen Patienten sie zuerst behandeln. Nach welchen Kriterien das geschehen soll, regelt der Paragraph 5 c des Infektionsschutzgesetzes. Das Verfassungsgericht hat am Dienstag die 2022 vom Bundestag beschlossenen Triage-Regelungen aufgehoben. Zum einen überschreiten sie nach Ansicht des Gerichts die Zuständigkeit des Bundes, zum anderen beeinträchtigen sie die Therapiefreiheit der Mediziner.

Die Lage ist durchaus kompliziert, und das Urteil ganz so eindeutig nicht zu bewerten. In der freien Ausübung des ärztlichen Berufs steckt die Überantwortung einer Berechtigung zur Entscheidung, die denjenigen Personen am Ort vorbehalten bleibe, die die Situation fachlich beurteilen können. Das Gesetz allerdings hat aus einer anderen Intention heraus eine Bestimmung geschaffen, die den Ärzten die eigene, fachlich fundierte Entscheidung erschwert. Diese Intention lässt sich darin zusammenfassen, dass bei der Triage ausschließlich medizinische Kriterien angelegt werden dürfen, die situativ relevant sind. Es darf, mit anderen Worten, keine Rolle spielen, wie hoch die Überlebenschance des Patienten generell sei, es dürfe allein darum gehen, wie hoch seine Chance bezogen auf die vorliegende Verletzung oder Erkrankung ist. Kein Arzt soll einen behandelbaren Patienten aussortieren, weil er zum Beispiel alt ist oder körperlich behindert und daher grundsätzlich eine geringere Lebenswartung hat. Allein der akute Grad der Verletzung sei maßgeblich.

Das klingt ethisch vernünftig, allerdings bekommen ethische Sätze, sobald sie als Gesetz formuliert sind, ein höheres Gewicht, und die enthaltenen Kollateraleffekte bei der Praxis damit auch. Die Angst, eine medizinisch gut begründete Entscheidung gegen einen Patienten mit körperlicher Behinderung zu treffen, kann einen Arzt durchaus beeinflussen, weil er mit Klagen vor einem naturgemäß medizinisch unkundigen Gericht rechnen muss.

Man wird also festhalten können, dass das Gesetz einen ethisch elementaren Gedanken formuliert, diesen aber, indem es formuliertes Gesetz ist, selbst durchkreuzt. Und das gilt desgleichen für den Passus, der Ärzten eine Ex-post-Triage untersagt: »Bereits zugeteilte überlebenswichtige« Behandlungen waren nach der bislang gültigen Bestimmung von der Triage »ausgenommen«. Dem Behandelnden die Möglichkeit zu verwehren, eine nahezu aussichtslose Behandlung abzubrechen zugunsten der sicheren Rettung eines anderen Menschenlebens, widerspricht gerade dem Grundsatz der allein auf die akute Situation bezogenen Triage. Eine solche Entscheidung sollte auf einer Intensivstation wenigstens möglich sein.

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