Seuche mit Stallgeruch
Von Ralf Wurzbacher
Es ist absurd. Nutztiere müssen erst in Massen vor unser aller Augen sterben, um überhaupt als Lebewesen wahrgenommen zu werden. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) hat beim Anblick von Kranichen, die tot vom Himmel fallen, und Kadaverbergen in Mastbetrieben treffend kommentiert: »Für den Moment lenkt diese Tragödie die Aufmerksamkeit darauf, dass es hierzulande nicht nur Putensteaks, Hähnchenkeulen und Entenbrust gibt, sondern tatsächlich auch Puten.« Die in Deutschland, Europa und Nordamerika grassierende Vogelgrippe könnte bei allem Leid für die verendeten und geschlachteten Tiere ein Weckruf für alle Konsumverwöhnten sein. Seht her, das industrielle Morden schlägt auf die Natur zurück – auf den Magen sowieso. Die Frage ist nur, wie nachhaltig dieser Schock wirkt.
In der öffentlichen Debatte geht es deshalb auch darum, wer die Deutungshoheit erlangt. Für die Fleischindustrie ist der Fall klar: Das hochansteckende H5N1-Virus wurde von Wildvögeln eingeschleppt und hat von dort auf die Zuchtbetriebe übergegriffen. Tier- und Umweltschützer halten das für nicht bewiesen. »Bis die ersten Kraniche starben, wurde das Virus bereits in fünf Bundesländern in 15 Geflügelhaltungen amtlich festgestellt, auch in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg«, teilte Ende der Vorwoche der brandenburgische Landesverband des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu) mit. Die Entlüftungen der Tierfabriken und das Ausbringen von Geflügeldung auf die Maisäcker seien mögliche Ausbreitungswege. »Hingegen fliegt kein Kranich in eine geschlossene Stallung und verbreitet dort das Virus.« Der Verband beklagt massive Versäumnisse auf seiten des Friedrich-Loeffler-Instituts (FLI), das für die Überwachung der Vogelgrippeviren zuständig ist. Die Behörde habe die Gefahr schon wiederholt zu spät erkannt, obwohl bekannt sei, »dass das Virus in Enten- und Gänsehaltungen auch ohne nennenswerte Symptome über längere Zeit zirkulieren kann«.
Tatsächlich schließt auch das FLI Übertragungen aus Geflügelhaltungen auf Wildvögel nicht aus. Sogenannte niedrigpathogene Geflügelpestviren existieren schon lange in Wildvogelpopulationen. Die Mutation zu hochansteckenden Viren »geschah dann aber in ostasiatischen Geflügelbetrieben«, erläuterte der Nabu-Bundesverband in einer Stellungnahme vom Wochenende. H5N1 wurde erstmals 1996 auf einer Gänsefarm in der Provinz Guangdong in China entdeckt. Von dort seien sie zurück in Wildbestände und über die Handelswege in Geflügelbetriebe weltweit gelangt. Nabu-Präsident Jörg-Andreas Krüger fordert verstärkte Forschungsanstrengungen mit Blick auf die Verbreitungswege. Von Jahr zu Jahr seien immer mehr Vogelarten betroffen. »Und bei Säugetieren gibt es neuerdings nicht nur vereinzelte Direktinfektionen durch Aasaufnahme, bei Nerzen und Robben kommt es zur Massenverbreitung innerhalb der Arten«, so der Verbandschef.
Bis dato wurden bundesweit mehr als eine halbe Million Nutztiere gekeult. Von Norddeutschland ausgehend sind inzwischen über hundert Geflügelfarmen in zehn Bundesländern betroffen. Vielerorts wurde eine flächendeckende Stallpflicht verordnet, um weitere Ansteckungen zu verhindern. Stand jetzt handelt es sich um die drittschwerste Viruswelle in der BRD. Die schlimmsten Seuchenzüge hatte es 2021 und 2022 gegeben. Vor vier Jahren waren 286 Betriebe vom Virus befallen und zwei Millionen Tiere getötet worden. Ein Aufreger waren die Vorgänge jedes Mal nur für kurze Zeit. Enten, Puten und Hühner werden in aller Regel auf engstem Raum, ohne Tageslicht und Frischluft auf ihre Schlachtreife oder die maximale Eierzahl hin gezüchtet. Die unhygienischen Zustände sowie der exzessive Einsatz von Antibiotika bilden den Nährboden für Krankheiten, Infektionen und immer neue Mutationen.
»Wir haben bei uns im Land Megaställe mit 400.000 und mehr Tierplätzen je Durchgang, die Millionen Masthähnchen pro Jahr produzieren«, äußerte sich am Montag Corinna Cwielag vom Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) Mecklenburg-Vorpommern. »Die Haltungsbedingungen widersprechen den Grundsätzen des Tierschutzes. Es ist viel zuwenig Platz, um ein halbwegs artgerechtes und gesundes Leben zu ermöglichen«, sagte sie junge Welt. »Bei kleineren Beständen müssten weniger unschuldige Tiere im Falle einer Infektion getötet werden.« Den Deutschen schmeckt es trotzdem. Geflügelfleisch und Eier sind gefragt wie nie, wie das Statistische Bundesamt am Anfang der Woche unter Berufung auf die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung vermeldete. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Geflügel ist demnach im vergangenen Jahr auf den Höchstwert von 13,6 Kilogramm gestiegen. 2023 waren es noch knapp über 13 Kilo, im Jahr davor 12,4 Kilo. Zusätzlich verzehrte jeder Bürger durchschnittlich 249 Eier, auch das ein Rekord.
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