Im Krisenfall Stahlschock
Von Oliver Rast
Ein Schauspiel aus der Produktion: Ein Kranführer dirigiert eine Gießpfanne, aus der flüssiger Rohstahl – 1.600 Grad Celsius heiß – in die wassergekühlte Kokille gegossen wird. Der Lavastrom gleicht einem glühenden Strang. Der Boden bebt unter dem Stampfen der Walzgerüste, die feurige Brammen zu Platten formen – ein rhythmisches Donnern, das durch Mark und Bein der Malocher in Schutzanzügen dringt. Hochzeit am Hochofen.
Eine Szene, die aus der Zeit gefallen scheint. Denn die deutsche Stahlindustrie befindet sich im schleichenden Niedergang. Ärger noch, der hiesigen Wirtschaft droht ein jährlicher Wertschöpfungsverlust von bis 50 Milliarden Euro, »wenn sie ohne inländische Stahlproduktion in einen globalen ›Stahlschock‹ geriete«, so das Ergebnis einer neuen, von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie von Ökonomen der Universität Mannheim, die am Dienstag vorgestellt wurde.
Was ist mit »Stahlschock« gemeint? Ein Szenario, bei dem große Stahlexporteure wie etwa China aufgrund geopolitischer Konflikte oder Lieferkettenprobleme ihre Ausfuhren nach Europa ad hoc stark drosseln würden. Noch ist die BRD mit ihren fünf Stahlstandorten (Bremen, Duisburg, Eisenhüttenstadt, Saarland und Salzgitter) EU-weit der größte Hersteller. Umso wichtiger sei es nach Ansicht der Studienautoren, die Transformation von Kokshochöfen »auf eine klimaschonendere Produktionsweise mittels Direktreduktionsanlagen« zu forcieren. Die Hälfte des Stahls sollte über eine CO2-arme Direktreduktion erzeugt, die andere Hälfte in Elektroöfen aus Stahlschrott geschmolzen werden. Und: Die Zeit drängt, weil die technische Lebensdauer der Altanlagen im kommenden Jahrzehnt ausgeschöpft sein dürfte.
Aber es geht nicht nur um ökologische Nachhaltigkeit und wirtschaftliche Resilienz. Wenn die Stahlproduktion verstärkt ins Ausland verlagert werden sollte, dann ist der Ofen für mindestens 30.000 der 70.000 Stahl- und Hüttenwerker aus, prognostizieren die Autoren. Zumal 42 Prozent der Malocher hierzulande älter als 50 Jahre sind – und wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Für jene bleibt nur die Schlussszene: Das Stampfen verstummt, die Walzen stehen still – das Werkstor fällt mit einem dumpfen Schlag ins Schloss.
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besondere Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (5. November 2025 um 05:16 Uhr)Interessant ist, dass die Überlegungen zur nationalen Bedeutsamkeit von Zweigen der Wirtschaft immer dann auftauchen, wenn eine Krise ausgebrochen ist. Die aber entsteht ja gerade dann am schnellsten, wenn sich das Kapital ohne lange zu fragen dorthin auf den Weg gemacht hat, »wu alles fei su billig ist«. Dort kann man nämlich am meisten verdienen. Und wenn’s dann kriselt, kann man immer noch nach dem nationalen Rettungsanker greifen: Auweia, die heimischen Engpässe! Schnell dort die öffentlichen Schatztruhen öffnen und das retten, was einst vom Kapital bewusst und zielgerichtet im Stich gelassen wurde. Denn dann stimmen auch wieder zu Hause die Profitraten. Bis man wieder dorthin ziehen kann, »wu alles fei su billig ist«.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (4. November 2025 um 21:47 Uhr)»Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.« Das Lichtlein kommt von Rheinmetall. Rheinmetall will hunderte von E-Fuel-Anlagen als dezentrale Energiequellen bauen. Für PtX braucht man jede Menge Wasserstoff, den wollen sie auch erzeugen. Also Kreislaufwirtschaft: Zuerst den Panzerstahl mit Wasserstoff erzeugen, dann aus dem dabei entstehenden Wasser wieder Wasserstoff für den PtX-Panzerdiesel. Den Kohlenstoff will Rheinmetall aus der Luft holen. Wer genaueres wissen möchte, suche nach »E-Fuel-Anlagen für Europas Streitkräfte«.
Mehr aus: Inland
-
Wie kann man sich der Aufrüstung widersetzen?
vom 05.11.2025 -
Was hat das Goldenbaum-Gutachen dazu zu sagen?
vom 05.11.2025 -
Arbeiter oder Soldat?
vom 05.11.2025 -
Wer zur Verfügung steht
vom 05.11.2025 -
Seuche mit Stallgeruch
vom 05.11.2025