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Aus: Ausgabe vom 01.11.2025, Seite 6 / Ausland
Brief aus Jerusalem

Wer das Sagen hat

Brief aus Jerusalem. In Israel und den USA ist eine Kontroverse um das wechselseitige Verhältnis entbrannt
Von Helga Baumgarten
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Beleidigte Mienen: Trumps Stellvertreter und Berater fühlen sich von Israel zurückgesetzt (Kirjat Gat, 21.10.2025)

Nehemia Schtrasler, Kolumnist der liberalen israelischen Zeitung Haaretz, hat Israels Premier Benjamin Netanjahu am Montag scharf angegriffen: Er habe Israel zu einem Vasallen der USA gemacht. Die wichtigen Entscheidungen würden inzwischen in Washington gefällt. Israel habe sie lediglich umzusetzen. Zuvor waren umgekehrt Stimmen aus dem MAGA-Lager in den USA laut geworden, die behaupten, dass Israel die USA seit langem zwinge, eine Politik im Interesse Israels und nicht der USA zu verfolgen. Die Antwort der Agitatoren von »Make America Great Again«: Israel ist ein US-Protektorat. Netanjahu traf das unvorbereitet. Er war entsetzt. In mehreren Reden auf englisch wie auf hebräisch bestand er darauf, dass Israel kein US-Protektorat sei, sondern enger Verbündeter von Donald Trumps USA. Seitdem betont Netanjahu regelmäßig, dass allein Israel Entscheidungen zur Verteidigung seiner »Sicherheit« treffe und umsetze.

Die Angriffe auf »Bibi« mehren sich inzwischen aber nicht nur in der Opposition, sondern selbst im rechten Lager. Ihm wird vorgeworfen, unter US-Präsident Joe Biden die Unterstützung Israels von der Demokratischen Partei verloren oder schlicht arrogant verspielt zu haben. Und jetzt geschehe dasselbe mit den Republikanern. Nicht zuletzt Schtrasler verweist darauf, dass bisher jede israelische Regierung seit dem ersten Ministerpräsidenten David Ben-Gurion eine Strategie verfolgt habe, mit beiden US-Parteien eng zusammenzuarbeiten. Netanjahu habe es sich mit beiden gründlich verscherzt.

Interessant in diesem Zusammenhang sind mehrere direkte israelisch-US-amerikanische Zusammenstöße in den vergangenen Tagen. Als die Knesset das geplante Gesetz zur Annexion der Westbank mit großer Mehrheit voranbrachte, reagierte US-Vizepräsident James D. Vance, der zum selben Zeitpunkt in Israel war, mit beißender Kritik. Unterstützt wurde er von den ebenfalls anwesenden Trump-Beratern Steve Witkoff und Jared Kushner. Netanjahu musste sich anhören, dass es die USA seien, »who call the shots« (die das Sagen haben). Sie machten ihm klar, dass die Knesset-Abstimmung eine Beleidigung für sie gewesen sei. Und sie wiesen darauf hin, dass Trump unmissverständlich vorgegeben habe: Die Westbank darf nicht annektiert werden.

Nach einem angeblichen Angriff der Hamas im Süden Gazas bei Rafah tagte das israelische Sicherheitskabinett zunächst, ohne eine Entscheidung zu fällen. Der Beschluss zur Bombardierung kam offensichtlich erst, nachdem Netanjahu grünes Licht aus den USA bekommen hatte. Trumps Kommentar: Israel darf sich verteidigen – aber der Waffenstillstand bleibt. Die israelischen Kritiker betonen, dass inzwischen in Kirjat Gat im Süden Israels ein US-Militärstützpunkt mit dem schönen Namen »Civil-Military Coordination Center« (Zentrum für zivil-militärische Zusammenarbeit) errichtet wurde. Ebendort würden jetzt militärische Beschlüsse gefasst.

Am Donnerstag wurde außerdem von einem Telefongespräch zwischen dem israelischen Premier, Katars Regierungschef und dem US-Außenminister berichtet. Katar bestand wohl darauf, dass sich auch Israel an den Trump-Plan halten müsse. Die Übergänge nach Gaza müssten geöffnet werden, damit endlich ungehindert Nahrung geliefert werden könne. Schließlich ist der Besuch eines hochrangigen US-Generals geplant, der in Israel dafür sorgen soll, dass der Waffenstillstand hält und der Übergang zur zweiten Verhandlungsphase erfolgt. All das wird von den USA auf sehr diplomatische Weise angekündigt. Der Inhalt ist jedoch klar und deutlich.

Wie aber sieht die Realität aus? Ist Israel tatsächlich zum Vasallen der USA geworden, oder sind beide Staaten nach wie vor regelrecht zusammengewachsene Zwillinge, wie der US-Politologe John Mearsheimer immer wieder hervorhebt? Sein Fachkollege Joseph Massad hat am Mittwoch auf der Infoseite Middle East Eye sowohl für die Gegenwart und voraussehbare Zukunft als auch in einer historischen Analyse aufzuzeigen versucht, dass die Interessen Israels und der USA absolut identisch seien. Die Kritik Trumps an Israel sei nur verbal. In Realität lasse er Israel alle Freiheit. Das demonstriert Massad vor allem für die Westbank. Auch ­Haaretz schreibt, dass sie unter Netanjahu und Finanzminister Bezalel Smotrich längst annektiert sei. Ob der De-facto-Annexion nun unbedingt eine Annexion de jure folgen müsse, sei letztlich irrelevant.

Tatsächlich hat die Gewalt von Siedlern, Armee und Geheimdienst ungeahnte Ausmaße angenommen. Laut UN-Nothilfebüro OCHA wurden in der Westbank seit Jahresbeginn 183 Palästinenser umgebracht, davon waren 40 Kinder. Seit dem Beginn der Olivenernte Anfang Oktober gibt es täglich brutale Siedlerangriffe. OCHA verzeichnet 86 Angriffe auf 50 Dörfer mit vielen Verletzten. Tausende Olivenbäume wurden von den Siedlern entwurzelt und verbrannt.

In Gaza herrscht nach wie vor Hunger. Israel bricht fast täglich den Waffenstillstand und hat Anfang der Woche in einer einzigen Nacht 104 Menschen in den Tod gebombt. Nur 96 Schwerkranke konnten zur Behandlung ins Ausland gebracht werden. Die Frage stellt sich deshalb: »Who is calling the shots?«

Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit und schreibt an dieser Stelle wöchentlich ihre Kolumne »Brief aus Jerusalem«.

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