Gegründet 1947 Mittwoch, 2. Juli 2025, Nr. 150
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 02.07.2025, Seite 7 / Ausland
Syrien

Westliche Doppelmoral

Syrien: Trotz Menschenrechtsverbrechen heben USA Sanktionen auf. Damaskus will Golanhöhen aufgeben
Von Wiebke Diehl
2025-06-30T102443Z_1008782830_RC2XGDABDHMO_RTRMADP_3_SYRIA-CRISI
In der Ortschaft Kabu haben die Dschihadisten Dutzende Alawiten ermordet und ihr Hab und Gut zerstört (20.3.2025)

Die USA haben ein Großteil der Sanktionen gegen Syrien am Montag per Präsidentendekret aufgehoben. Die gegen den im vergangenen Dezember gestürzten syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad sowie dessen Mitarbeiter verhängten Maßnahmen bleiben hingegen weiter in Kraft. Dasselbe gilt nach Aussage von Donald Trumps Sprecherin Karoline Leavitt für Sanktionen gegen »Menschenrechtsverletzer, Drogenhändler sowie Personen, die mit chemischen Waffen in Verbindung« stünden.

Die seit Beginn des Regime-Change-Kriegs gegen Syrien im Jahr 2011 mehrfach erheblich verschärften Syrien-Sanktionen waren ein wichtiges Instrument in den Bemühungen der USA, anderer westlicher Staaten, mehrerer Golfstaaten, der Türkei und Israels, die Regierung Assad zu stürzen, weil sie den eigenen geopolitischen Interessen im Weg stand. Der Vorwand, Demokratie und Menschenrechte zu befördern, wurde ad absurdum geführt: 90 Prozent der Bevölkerung lebten Ende 2024 in bitterer Armut. Die daraus resultierende Verzweiflung war einer der Faktoren, die die Machtübernahme der Terroristen der Haiat Tahrir Al-Scham (HTS), einem Al-Qaida-Ableger, begünstigten.

Dass die neue, nicht durch Wahlen legitimierte »Übergangsregierung« unter Abu Mohammed Al-Dscholani (bürgerlicher Name: Ahmed Al-Scharaa) direkte Verantwortung für im März verübte Massaker an der alawitischen Minderheit Syriens trägt, hat gerade erst eine von der Nachrichtenagentur Reuters veröffentlichte Recherche belegt. Gestützt auf die Aussagen von mehr als 200 Familien, 40 »Sicherheitskräften« und Kämpfern extremistischer, inzwischen im Dienst der Regierung stehender Milizen, unter Einbezug verifizierter Videos und Chatprotokolle wird darin die Tötung von fast 1.500 Alawiten dokumentiert. Die tatsächliche Zahl der allein im März Getöteten wird allerdings deutlich höher geschätzt. Reuters kommt zu dem Schluss, dass die Befehlskette der Täter direkt zu den neuen Machthabern führt.

Die Kommandostruktur reiche bis ins Verteidigungsministerium. Dessen Sprecher Hassan Abdel Ghani habe den Feldzug gegen die Alawiten über einen Telegram-Chat koordiniert. Auf die Massaker angesprochen, habe er im Chat geantwortet: »Möge Gott euch belohnen.« Kämpfer unterschiedlicher, unter US- und UN-Sanktionen stehender Milizen demütigen bis heute Menschen, verfolgen und entführen sie, vergewaltigen und töten. Einigen Opfern wurden die Herzen herausgeschnitten, selbst vor Kindern hat man nicht Halt gemacht.

Für die Verbrechen angeklagt wurde bislang niemand. Im Gegenteil: Der Anführer der Sultan-Suleiman-Schah-Brigade, Mohammed Al-Dschasim, wurde zum Brigadegeneral befördert – genau wie der Chef der Hamsa-Division, Saif Bulad Abu Bakr. Auch der maßgeblich an den Massakern beteiligte Anführer der Eliteeinheit 400, Abul Khair Taftanas, stieg zum General auf und ist heute für die Regionen Latakia und Tartus – beides Orte, an denen die Verbrechen verübt wurden – verantwortlich. Dass jetzt trotz der schweren Menschenrechtsverbrechen fast alle Sanktionen aufgehoben werden, beweist ebenso wie die in Trumps Dekret ergangene Anweisung an das US-Außenministerium, die Einstufung der HTS, aus der ein Großteil der »Übergangsregierung« hervorgegangen ist, als ausländische terroristische Organisation zu überprüfen, dass es nie um Menschenrechte ging. Darüber hinaus soll US-Außenminister Marco Rubio nach Trumps Willen die bestehende Listung Syriens als staatlicher Unterstützer von Terrorismus sowie jene Al-Dscholanis als Terrorist überdenken.

Derweil berichtete die Times of Israel am Montag, Damaskus fordere in den aktuellen Gesprächen über ein »Normalisierungsabkommen« mit Israel keine Rückgabe des 1967 eroberten und später annektierten Teils der Golanhöhen. Zur Bedingung würden lediglich eine Anerkennung der syrischen »Übergangsregierung« sowie ein israelischer Rückzug aus dem Süden Syriens, klar definierte Sicherheitsvorkehrungen und eine nicht näher definierte Unterstützung durch die USA gemacht.

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • 14.05.2025

    »Neuer Mittlerer Osten«

    Israel setzt Ideologie vom »Wiederauferstehungskrieg« gnadenlos um – aber nur, weil es gelassen wird
  • Lichtstreif am patriarchalen Horizont? Das kurdisch dominierte P...
    23.01.2025

    Ein Land für alle?

    Während die Türkei und Israel Teile des Landes besetzt halten, ist mehr als fraglich, ob die Islamisten ihre demokratischen Versprechen einhalten. Syrien – gestern und heute (Teil 2 und Schluss)
  • Baschar Hafiz Al-Assad (l.) galt weithin als »schwacher Nachfolg...
    22.01.2025

    Unter fremdem Einfluss

    Vom Kolonialismus im 19. Jahrhundert bis zum Bürgerkrieg – ein Land im Fokus ausländischer Mächte. Syrien gestern und heute (Teil 1)

Mehr aus: Ausland