Einer muss es machen
Von Margot Overath 
					Zum ersten Mal erlebte ich Heinrich Hannover im Saal 218 des Bremer Landgerichts. Vor der Richterbank stand Waldemar S. (Name geändert), den Staatsanwalt Hans-Georg von Bock und Polach wegen Raubes und Sachbeschädigung angeklagt hatte. Den Vorsitz der Kammer führte Landgerichtsdirektor Berndt-Adolf Crome. Die Tat ereignete sich im Juni 1981. Mitglieder einer Wohngemeinschaft aus der Bremer Neustadt hatten Kameras und Videogeräte auf Stativen in der Dachwohnung im Haus gegenüber entdeckt. Wurden sie ausgespäht? Nach einer Woche stürmten sie die Wohnung und warfen das Equipment aus dem Fenster. Waldemar S. stellte sich der Polizei, die Observierer flohen und ließen Rucksäcke mit Einsatzplänen des Bremer Verfassungsschutzes zurück – etwa 500 Überwachungseinsätze inklusive der Adressen von Überwachten.
Der beste Schutz
Damals arbeitete ich als feste Freie im Jugendfunk von Radio Bremen und absolvierte meinen ersten Einsatz als Prozessbeobachterin. Waldemar S. ließ sich von Heinrich Hannover verteidigen. Unvergessen bleibt mir, wie ich jeden Verhandlungstag genoss. Wenn Heinrich Hannover Zeugen befragte, veränderte sich die Atmosphäre, eine beispiellose Spannung erfüllte den Saal. Mich beeindruckte, wie er den Vorsitzenden der parlamentarischen Kontrollkommission für die Geheimdienste, Bernd Neumann (CDU), in Bedrängnis brachte. Neumann stellte als Zeuge die Rechtmäßigkeit der Observation nicht in Frage, hatte aber mir gegenüber in einem Interview vier Wochen nach der Tat eingeräumt: »Mir würde auch nicht genügen, wenn dann eine Kontrollkommission erklärt, das ist alles korrekt und rechtmäßig gewesen.«
Kurz vor Schluss des Verfahrens rief Hannover einen Zeugen in den Saal, der erst durch die Veröffentlichung der Einsatzpläne von seiner Ausspähung erfahren hatte. Seine Aussage sorgte für Gänsehautmomente. In diesem Licht erschien die Tat von Waldemar S. wie eine unvermeidliche Notwehrhandlung. Hannover beendete sein Plädoyer mit den Worten: »Der beste Verfassungsschutz eines freiheitlich demokratischen Staates ist die Bereitschaft seiner Bürger, sich schützend vor die Verfassung zu stellen, wenn staatliche Gewalt in ihre Freiheitsrechte eingreift.«
Heinrich Hannovers Argumente überzeugten durch Klarheit und Sympathie. Seine persönliche Präsenz und Souveränität, seine Unnachgiebigkeit und nicht zuletzt sein Humor motivierten mich, weitere Strafprozesse zu beobachten, journalistisch zu begleiten oder aufzuarbeiten. Wie etwa den Prozess gegen den homosexuellen Bauarbeiter Otto Becker, der wegen Vergewaltigung und Mordes an der 17jährigen Carmen Kampa angeklagt und verurteilt worden war. Becker war kein Mörder, das Urteil war falsch, nur seine Gutgläubigkeit hatte ihn in diese Lage gebracht. Erst spät erkannt er, dass er den Anwalt wechseln musste. Aus der Untersuchungshaft schrieb er an Heinrich Hannover. 20 Jahre später las ich seinen Brief, studierte die Prozessakten und bat ihn, seine Geschichte zu erzählen. Auch andere Beteiligte – Richter, Rechtsmediziner, Kriminalbeamte, Prozessbeobachter – schilderten mir ihre Sicht. Beckers neuer Anwalt hatte festgestellt, dass der überforderte Klient von seinen polizeilichen Vernehmern regelrecht hereingelegt worden war. Hannover ging in Revision, der Bundesgerichtshof hob das Urteil aus formalen Gründen auf, es musste neu verhandelt werden. Der zweite Prozess endete mit Beckers Freispruch.
Vor Beginn dieses Prozesses hatte Hannover die Öffentlichkeit aufgefordert, ihm bei der Suche nach dem wahren Täter zu helfen. Die Bremer Tageszeitungen boten sich hierfür als Forum an. So etwas hatte es noch nie gegeben. Ein Referendar verriet schließlich die Existenz einer Spurenakte, die weder Staatsanwaltschaft noch Gericht bekannt war. Mit Menschlichkeit und Klugheit bewahrte Hannover einen Unschuldigen vor dem Gefängnis. Der Fall Otto Becker wurde sein wichtigster, sein »Jahrhundertmandat«.
Eine Entführung
Kennengelernt habe ich Heinrich Hannover als Strafverteidiger. Als Jan Philipp Reemtsma ihn bat, über seine Verteidigung von Terroristen zu schreiben, durften Rolf Gössner und ich die Arbeit begleiten. So wurden wir eine Zeitlang Kollegen. Im Lauf der Jahre entstand eine Freundschaft, die bis zu seinem Tod 2023 Bestand hatte. Ich erinnere mich gern an Besuche in Heinrichs und Doris’ Worpsweder Häuschen mit Wald, die immer wie Urlaubstage waren. Manchmal erwartete er uns mit Jacke und Mütze am Gartentor. Sieben Kilometer im schnellen Schritt mussten es mindestens sein. Noch mit 80 und 85 sprach er von neuen Projekten – vielleicht ein weiteres Kinderbuch? Die Ideen gingen im nie aus, dafür sorgte schon die große Enkelschar. Oder Musik – ein Streichquartett, ein Tango? Am PC komponierte er Kammermusik, vertonte eins seiner Kinderbücher und ließ es öffentlich aufführen.
»Wer Heinrich Hannover gekannt hat«, schrieb Norman Paech in Ossietzky, »wird sich immer an sein schallend herzliches Lachen erinnern. Denk’ ich an Heinrich, höre ich sein Lachen, und dann ist mir wohl ums Herz.« Mir geht es genauso.
Heinrich Hannover wurde vielfach ausgezeichnet. Zweimal erhielt er einen Ehrendoktortitel, 1986 von der Berliner Humboldt-Universität und 1996 von der Universität Bremen. Bei der Bremer Verleihung bedankte er sich mit einer Rede über den Fall des südkoreanischen Komponisten Isang Yun im Jahr 1967. Dieser bedeutete weit mehr als einen Justizskandal: Yuns Entführung aus Berlin durch Angehörige des südkoreanischen Geheimdienstes geschah augenscheinlich mit Hilfe deutscher Stellen. Ich verfolgte seine Rede im Auditorium und wusste sofort, dass das mein nächstes Radiofeature werden würde. Isang Yun lebte nicht mehr, aber mit Hannovers Unterstützung lernte ich Soo-ja Yun kennen, die Ehefrau des Komponisten. Auch sie war damals entführt worden – am selben Tag, aber getrennt von ihm. Beide standen wegen angeblicher kommunistischer Subversion vor Gericht. In Südkorea unter General Park konnte diese Anschuldigung tödlich sein. 1963 hatte Yun Nordkorea besucht, seine Werke werden bis heute dort aufgeführt. Yuns Freundeskreis bat Hannover, für seine Rückkehr einzutreten. Völkerrechtlich war die Sache eigentlich nicht zu verlieren, aber unter der Folter gestand Yun angeblich, für Nordkorea spioniert zu haben. Soo-ja Yun erzählte mir von Audiokassetten, auf denen ihr Mann schilderte, wie die Folter ablief. Befragt hatte ihn die Schriftstellerin Luise Rinser. Dank Heinrich Hannover konnte ich diese Tondokumente in meinem Radiofeature »In meiner Phantasie konnte ich fliegen« verwenden.
Ein halbes Jahr nach seiner Entführung wurde Isang Yun in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt, Soo-ja Yun zu drei Jahren auf Bewährung. Der Generalbundesanwalt stellte den Komplex unter Geheimhaltung. Im März 1969 wurde Isang Yun begnadigt und unter der Bedingung, nie öffentlich über seine Entführung zu sprechen, freigelassen. Er starb 1995 in Berlin.
Seit 2009 recherchiere ich den Tod von Oury Jalloh in einer Zelle des Dessauer Polizeigewahrsams. Heinrich Hannover begleitete meine Arbeit, beriet mich unzählige Male. Dass ich am Ende bereit war, ein Buch über die verhinderte Aufklärung von Oury Jallohs Tod zu schreiben, verdanke ich auch ihm. »Mach das«, sagte er immer, »einer muss es machen und du kannst es.«
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