Dorfbild
Von Jürgen Roth
Radio Bremen rief an. Die Redaktion des zweiten Programms ersucht mich ab und an um ein Liveinterview zu Phänomenen der politischen Rhetorik, und jetzt war das nicht endende, ritualisiert empörte Getöse im Anschluss an Fritze Merzens Statements zum Stadtbild dran.
»Mein Blick auf die Angelegenheit dürfte Ihnen nicht behagen«, sagte ich zu der netten Redakteurin, denn der stets beschämend herumschwafelnde Bundeslügengockel habe ausnahmsweise recht, ich könne beispielsweise aus meinem Frankfurter Alltag vielerlei Anschauliches berichten, inklusive Pfeffersprayattacken aus dem Nichts, während man auf einer Parkbank ein Buch lese. Und weshalb der Kanzler das nicht expliziere, das sei das Aufschlussreiche an den Vorgängen.
»Ach so«, sagte sie, »Sie würden den Akzent darauf legen, warum Merz derart herumeiert?« – »Genau«, sagte ich. »Etwas anderes kriegen Sie von mir leider nicht.«
Das Gespräch verlief dann dufte, man ließ mich ausreden, kein übertrieben moralisierendes Hineingrätschen des Moderators. Ich wies die hinterfotzigen Rassismusvorwürfe des Ekels Klingbeil zurück: Merz habe in seinen Andeutungen soziologisch-kulturell zu argumentieren versucht. Der ganze mediale Krawall hingegen illustriere den Verlust oder die Zerstörung des »Wirklichkeitssinns« (Wilhelm von Humboldt), die Verengung der Äußerungskorridore, die Dränierung des Freiheitsraums des Ausdrucks, die totalitäre Beschneidung im Zuge eines gesellschaftspolitischen Umbaus der Sprachlichkeit des Menschen durch lexikalische und semantische Auszehrung und Uniformierung. Vor die Realität sei ein dicker Paravent geschoben worden, und hinter den sei Merz, vorderhand eingeschüchtert durch einen immensen Konformitätsdruck, ausgewichen – ein Akt der Selbstzensur, der die einstigen Kämpfe der Linken und des liberalen Bürgertums um ungeschmälerte Meinungsautonomie verhöhne. Wehner, Brandt, Schmidt, Strauß hätten ihn schmetternd ausgelacht.
Hinterher dachte ich an unser Dorfbild, das sich auch rasant verändert, nicht allein durch den Wandel der Bewohnerstruktur – und selbstverständlich nicht durch den Zusammenbruch des ÖPNV und die Mutation der Innenstadt und anderer Viertel in für Frauen hochgefährliche Düster- und Elendszonen –, sondern zumal durch das Herumfuhrwerken des Gemeinderates, der nicht mehr alle an der Waffel hat.
»Was wollen die den Sternplatz verschönern?! Die ham aan Batscher!« schimpft die Lotte (der Sternplatz ist seit Jahrzehnten ideal gestaltet), und neulich wurde eines der anmutigsten Häuser abgerissen, die alte Gewerbebank (und vormals Reichspost), ein wohlproportionierter, teilverklinkerter Bau, an dessen Stelle Würfelappartements errichtet werden sollen.
In der Fränkischen Landeszeitung erschien daraufhin ein Leserbrief in angemessen eingetrübtem Tonfall: »Erhalt zu teuer: Für Gemeinde und Bauträger scheinen historische, ortsbildende Werte und Nachhaltigkeit keine Rolle zu spielen. Ebenso wie die Meinung von Fachleuten. (…) Örtliche Historiker und der Heimat- und Geschichtsverein wiesen auf die für Neuendettelsau historische Bedeutung des Gebäudes hin. (…) Das Gebäude war in zentraler Lage, baulich einzigartig in Neuendettelsau.«
Denkmalpflege? Pfff. Scheißegal. Vorschlaghammer? Immer! Da simmer dabei, denn datt is’ prima. Daher macht das Gasthaus Lina in Bälde die Bekanntschaft mit Bulldozern, und vielleicht knüppeln sie das nebenan gelegene Löhehaus gleich mit um, wer braucht den ollen Rotz in unseren gesegneten Zeiten des Aufbruchs und der Totaltransformation noch, geht doch Neuendettelsau außerdem mit der »Stadt«-Führungsapp »Actionbound«, die »tolle historische Ansichten« präsentiert, extrem interaktiv richtig crazy, und am Rathaus hängen nun ja zwei »digitale Displays«, die »rund um die Uhr« zeigen, »was in Neuendettelsau gerade wichtig ist«, etwa, wann das öffentliche Plumpsklo, in das die gewählten Vertreter gesperrt gehören, vom Högner oder vom Beil in die Luft gesprengt wird.
Ich erinnere mich an die Speibecken in den Kneipen. So ’n Ding erfüllte mir heute gute Dienste.
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