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Aus: Ausgabe vom 31.10.2025, Seite 7 / Ausland
Brasilien

Die Favela weint

Brasilien: Größter und wohl auch tödlichster Einsatz im Armenviertel Rios
Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
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Dicht an dicht liegen die Getöteten am Mittwoch auf der Straße der Penha-Favela in Rio de Janeiro

Brasilien erwachte am Mittwoch mit makaberen, schockierenden Bildern: VW-Transporter schaffen reihenweise tote Körper heran. Unerschrockene Bewohner der Favelakomplexe Penha und Alemäo haben sie aus dem bewaldeten Hügel der Serra da Misericórdia geholt und sie zur Identifizierung durch ihre Angehörigen auf dem Platz São Lucas von Penha abgelegt. Mehr als 60 Leichen, umringt von Hunderten von Menschen. Die Szene erinnert an Gaza, doch wir sind in Rio de Janeiro, und es ist der Morgen nach dem tödlichsten Polizeieinsatz in der Geschichte der Millionenmetropole am Zuckerhut.

Augenzeugen berichten, dass einige der Toten gefesselt waren und Kopfschüsse in der Stirn aufwiesen. Eine Bewohnerin Penhas postete auf Instagram: »Die Favela weint! Das war keine Polizeioperation, das war ein Massaker, es war grausam, es war unmenschlich. Ein Anblick, den ich noch nie gesehen habe, nicht einmal in Filmen, ein Anblick, der sich für immer in unser Gedächtnis eingebrannt hat, in das Gedächtnis der Kinder, der Mütter, der Familien. Staatlicher Genozid.« Zusammen mit den 58 zuvor von der Polizei dem Institut für Rechtsmedizin (IML) übergebenen, offiziell in Notwehr erschossenen und als »Drogenterroristen« bezeichneten Personen erhöhte sich damit die Opferzahl auf über 120. Die öffentliche Verteidigungsanwaltschaft (Defensoria Pública) geht von wenigstens 128 getöteten Zivilisten aus.

Die von langer Hand vorbereitete Megapolizeioperation, bei der 2.500 Einsatzkräfte, 32 Panzerfahrzeuge, Drohnen und Hubschrauber zum Einsatz kamen, hatte das offizielle Ziel, 100 Haftbefehle gegen Mitglieder und Anführer des »Roten Kommandos« zu vollstrecken. Frühere Polizeirazzien gegen die Drogenbande von Alemão oder Penha hatten in der Regel dazu geführt, dass die gesuchten mutmaßlichen Verbrecher und Bandenmitglieder in den Wald der zwischen den Favelakomplexen liegenden Serra da Misericórdia flüchteten und untertauchten. Doch diesmal stellte die Polizei nach rund einjähriger Planung den angeblichen »Drogenterroristen« eine Falle.

Als Rio de Janeiros Einsatzkräfte der Landes- und Kriminalpolizei mit Schnellfeuergewehren und Panzerfahrzeugen in die Favelas eindrangen, kam es zunächst zu heftigen Schießereien und Barrikaden gingen in Flammen auf. Schließlich flüchteten wie immer zahlreiche bewaffnete Mitglieder des »Roten Kommandos« in den Wald oberhalb der Favelas. Genau darauf hatten sich die Polizeistrategen vorbereitet und zuvor eine Spezialeinheit auf dem Hügel positioniert. Statt der Polizei zu entkommen, tappten die Geflüchteten in die Falle und wurden offenbar wie Jagdwild abgeschossen.

Bei der Pressekonferenz am Mittwoch bezeichnete der Polizeisprecher die Megaoperation, bei der auch 113 Verdächtige verhaftet wurden und vier Einsatzkräfte ihr Leben verloren als vollen Erfolg. Und Rio de Janeiros Gouverneur Cláudio Castro sagte, dass die »wahren Opfer (des Großeinsatzes) die Polizisten waren«. Er betonte seine Solidarität mit den getöteten Beamten und deren Familien. UN-Generalsekretär António Guterres indes zeigte sich in seiner täglichen Pressekonferenz »zutiefst besorgt« über die Zahl der zivilen Opfer des heftigen Polizeieinsatzes in Rio.

Die Kriminalpolizei hat inzwischen Ermittlungen eingeleitet, um zu klären, wer die Leichen aus dem Wald geholt und nach Penha transportiert hat. Gegen diejenigen werde, so Rios Polizeisekretär Felipe Curi, wegen Verfahrensbetrugs ermittelt, da sie den Getöteten deren Tarnbekleidung abgenommen und sie versteckt haben sollen.

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