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Aus: Ausgabe vom 25.10.2025, Seite 10 / Feuilleton
Kino

Eine glückliche Familie

Wildschweinjagd und Blutrache: Das korsische Gangsterleben der 90er in dem Spielfilm »Kingdom – Die Zeit, die zählt«
Von Ronald Kohl
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Wenn das Blut spritzt, ist Papa glücklich: Lesia und Pierre-Paul

Diesen einen Sommer erlebt es die 15jährige Lesia (Ghjuvanna Benedetti) ungewöhnlich oft, dass über jemanden aus ihrer Verwandtschaft in den Nachrichten des korsischen Regionalfernsehens berichtet wird. Die Beiträge sind alle nach dem gleichen Muster gestrickt, und der Inhalt lässt sich auch bei abgeschaltetem Ton, wenn Lesia zum Beispiel ausnahmsweise mal eine Snackbar besucht, relativ leicht erfassen. Anfangs wird jedes Mal ein von Kugeln durchsiebtes Fahrzeug gezeigt und danach das Bild des Halters eingeblendet (jedes Mal eine Archivaufnahme).

»Kingdom – Die Zeit, die zählt« spielt Ende der 90er Jahre auf der Mittelmeerinsel. Als sich die Ereignisse zu überschlagen beginnen, haben gerade die großen Ferien begonnen. Lesias Vater Pierre-Paul (Saveriu Santucci) ist einer der lokalen Paten. Sein Aufenthaltsort, eine moderne Strandvilla, ist nur wenigen Vertrauten bekannt. Wenn Lesia, deren Mutter seit Jahren tot ist, die Familie besucht, darf sie unter keinen Umständen das Telefon benutzen. Das ist für einen verliebten Teenager nicht ganz so einfach.

Regisseur Julien Colonna kennt das Milieu, in dem er seinen ersten Spielfilm angesiedelt hat, aus eigenem Erleben. Die letzten Bilder vom Auto seines Vaters, die damals nicht nur im korsischen Fernsehen gezeigt wurden, sahen genau so aus wie die im Film. Als Kind für den fiktiven Mafiaboss nun eine Tochter zu wählen, war eine rein künstlerische Entscheidung. Eine gut nachvollziehbare.

Die ersten Szenen zeigen eine Wildschweinjagd. Lesias Onkels sind da noch quicklebendig. Nach der Jagd bekommt sie ein Messer in die Hand gedrückt, mit dem sie die erlegten Tiere aufschlitzt, um ihnen mit bloßen Händen die Eingeweide herauszunehmen. Blut spritzt ihr auf die Wangen und die Nase. Doch sie schafft alles, ohne in Ohnmacht zu fallen oder zu würgen. Als Belohnung bekommt sie von Daddy einen dicken Schmatzer auf die Stirn.

Später, die Jagd auf den Paten läuft schon seit Tagen auf Hochtouren, verkriecht dieser sich mit seiner Tochter für eine Nacht bei seiner langjährigen Geliebten. Morgens, als er wichtige Telefonate führen muss, unterhalten sich die beiden Frauen, die sich das erste Mal im Leben begegnen, bei einer guten Tasse Kaffee.

»Ich habe gehört, dass du eine ausgezeichnete Jägerin bist.«

Lesia: »Ich habe es schon immer gehasst.«

»Warum hast du es dann getan?«

»Um Zeit mit ihm zu verbringen.«

Die große Anerkennung, die der Film bereits jetzt erfahren hat, fußt gewiss nicht nur auf der Stärke und dem Mut der jungen Heldin. Es ist auch der faszinierende Charakter des Vaters, seine aufrichtige Liebe, für die er in seinem Herzen nur mit Mühe Platz schaffen kann, denn dort war für lange Zeit einzig und allein das unstillbare Verlangen nach Rache zu Hause. Vom Weg der Vergeltung konnte ihn nichts abbringen. Um die 20 Mann mussten dran glauben. Doch das liegt Jahre zurück.

Ein wichtiges Element bei fast allen Mafiafilmen ist der Ausstiegsgedanke. Mal erträgt einer die Demütigungen des Bosses nicht mehr, ein anderer will plötzlich ein normales Leben führen (weil er nicht weiß, was es heißt, wenn jeden Morgen der Wecker klingelt).

In »Kingdom – Die Zeit, die zählt« existieren diese Gedanken nicht einmal ansatzweise. Pierre-Paul führt seinen Laden souverän. Es gibt keinen Aufstand und erst recht keinen Verrat: eine glückliche Familie. Man ist mit sich und der Unterwelt im Reinen. So dass nach dem ersten, noch missglückten Anschlag zunächst das große Rätselraten beginnt, ob die Bombe wirklich dem Boss gegolten hat oder doch einem sozialistischen Politiker, der ebenfalls in der Nähe des Sprengstoffsatzes geparkt hatte. »Manchmal«, heißt es dazu im Kommentar der lokalen Nachrichten, »kann eine Zielscheibe eine andere verdecken.«

Als die eigenen Reihen sich lichten, versucht Lesia, ihren Vater dazu zu überreden, mit ihr ins Ausland zu gehen. Pierre-Paul schüttelt sofort den Kopf, so dass die Zotteln seiner Hippieperücke nur so wackeln. Die beiden sind mit einem uralten Bulli auf einem Campingplatz untergekommen. Abgesehen von dem künstlichen Haar hat Paul-Pierre auch seinen komischen Bart gestutzt. Er trägt bunte, luftige Kleider und kann jetzt sogar lächeln, wenn er morgens über den Zeltplatz schlendert und die Leute grüßt. Den Grund seiner blendenden Laune kennen wir drei Leichen später.

Der Kreislauf der Rache ist also doch nicht für immer durchbrochen; er scheint ohnehin ein unhintergehbares Ding zu sein. Und dass eine junge Frau die Jagd hasst, bedeutet längst nicht, dass sie keine gute Jägerin ist.

»Kingdom – Die Zeit, die zählt«, Regie: Julien Colonna, Frankreich 2024, 112 Min., bereits angelaufen

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