Vieles liegt im argen
Von Michael Sollorz
In meiner Schule in Berlin-Lichtenberg gab es Frau Effenberger. Sie war nicht mehr jung, unterrichtete Mathematik mit eisiger Strenge und trug einen weißen Nylonkittel, daran das Parteiabzeichen. Wir Kinder fürchteten die Frau. Dann kam dieser Tag im neuen Schuljahr, da stand sie vor uns und weinte. Die Klasse hielt den Atem an. Was war passiert? Es gehört zu den Momenten meines politischen Erwachens: Im fernen Chile hatte das Militär geputscht und machte nun Jagd auf die Roten. Allende war schon tot, Tage später schnappten sie Víctor Jara, den volksverbundenen Liedersänger. Schaudernd malte ich mir aus, wie ihm Gewehrkolben die Finger brechen, damit er nie wieder Gitarre spielt.
Das alles drängte beim Lesen der harschen Zeilen schmerzhaft hoch, die Lehrerin, ihr Tränengesicht, Víctor Jara. »Der Sänger lag auf einem Leichenwagen / Die Fotos trugen einen schwarzen Rand. / Die friedlich siegten, wurden totgeschlagen. / Die Hoffnung stand mit dem Gesicht zur Wand. / Und blieb so stehen, nie zu Grab getragen. / Wie hat mein Kinderherz vor Hass gebrannt.«
Ein Kinderherz, vor Hass brennend. Das verortet die Herkunft des Autors, sein Aufwachsen in der DDR, wo wir Flaschen gesammelt haben für das brennende Vietnam, Unterschriften für die eingesperrte Kommunistin Angela Davis. Bei manchen ging diese Erziehung nach hinten los. Andere folgten den Lektionen ihr Leben lang, allen Widrigkeiten zum Trotz, und schämen sich dafür bis heute nicht.
Im Jahr der chilenischen Tragödie war Henry-Martin Klemt dreizehn, inzwischen ist er Mitte sechzig. Beileibe nicht jeder Text trifft den Leser mit so unerbittlichem Taktschlag. Sanftere Töne bestimmen den neuen Band, Gedichte aus den vergangenen zehn Jahren, ohne dass er sich abgekehrt hätte von den Schmerzen in der Welt. Denn es brennt ja noch, das Herz, lehnt sich auf wie am Beginn, dabei allerdings klüger geworden, zum Glück für uns alle. Um weiterschlagen zu dürfen, hat es lernen müssen. Wieviel Arbeit in der Wortkunst steckt zum Beispiel. Mit ungeheurem Fleiß beackert Klemt seit fast fünfzig Jahren das Feld, sein Studium am Leipziger Literaturinstitut, noch in den 80er Jahren, die ihr bekanntes Ende nahmen, eingeschlossen.
»Geh ich oder bleib ich hier? / Heimat ist, wo ich erfrier«, hieß es 1990. Für einen, der es wirklich ernst meinte und sich dem real existierenden Sozialismus mit Haut und Haar verschrieben hatte, schien das Scheitern die Möglichkeit eines sinnvollen Lebens zu beenden. Jetzt erst recht galt es, Widersprüche auszuhalten, auch die unaushaltbaren. Niederlagen, Anfeindungen, den Hohn der Sieger. Manch junges Talent zwischen Gera und Rostock zog es bald in sichere Berufe. Und Klemt? Wäre er ohne sein Schreiben womöglich gestorben?
»Wegzeichen«, »Menschenherz«, »Freiheit riecht nach Verbranntem« sind Titel früherer Bände. Der neue ist mittlerweile schon Nummer elf. Seine Gedichte wurden in etliche Sprachen übersetzt, er hat selber Nachdichtungen gemacht, etwa von Anna Achmatowa, und für Musiker geschrieben, immer wieder auch für seinen Generationsgefährten Dirk Zöllner.
Die Zeit heile alle Wunden, wird gesagt. Das stimmt zwar nicht, aber vielleicht ermöglicht sie uns Erfahrungen, die noch zum Bleiben einladen. Zuvorderst die Liebe; viele Gedichte sind Rita gewidmet, mit ihr lebt Klemt in Frankfurt am Grenzfluss Oder. Und da wären die Freundschaft, die Solidarität, mindestens im Privaten bewährt. Dazu der Wechsel der Jahreszeiten, die Stimmen der Natur, Demut anmahnend, und selbst das Altern, nie für möglich gehalten. »Die Augen suchen den oft gegangenen Weg / nach Überraschungen ab für ein Kinderherz, / das noch in uns pocht. Nichts hält Einzug / in uns, das dort nicht schon gewesen wäre.«
Ein Idylliker wird aus Klemt aber sicher nicht, zu vieles liegt im argen, und täglich wird es mehr. »Das Europäische Haus / ist ein Partybunker. Mit / den Türstehern ist nicht zu / spaßen lachenden Munds.« Und dennoch, die Poesie. »Eiskristalle wird der Winter / zaubern auf dem Stacheldraht.« Sein langer Weg hat Klemt zum Meister gemacht. Vieles wirkt mühelos, mit leichter Feder holt er auch sakrosanktes Talmi vom Fahnenmast: » … Freiheit steht auf, / während du schläfst. Freiheit / findet im Dunkeln hinaus. / Freiheit schließt leise / von draußen / die Tür.« Was bleibt? Ein Rückblick auf die eigenen Runden in der Manege, mit lachendem und weinendem Auge. Da passt es, dass der neue Band bei Morio erschienen ist, einem Heidelberger Imprint des Mitteldeutschen Verlages in Halle. Morio steht lateinisch für den Narren, dessen innere Freiheit und Unabhängigkeit das Unternehmen leiten, wie es die Website verspricht. Schließlich nennt der Dichter Klemt sich selber so einen, der Wasser zu schöpfen versucht mit dem Sieb, immer schon. »Viel hat sich nicht geändert: Türme fallen / und Städte. Menschen gehen vor die Hunde. / Ich kann allein spazieren und mit allen: / Mein Mund bleibt immer eine off’ne Wunde.«
Henry-Martin Klemt: Ausgewaschene Nacht – Vier Kapitel über das Glück. Gedichte. Morio-Verlag, Heidelberg 2025, 130 Seiten, 16 Euro
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