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Von Sabine Lueken»Dieses Buch ist ein Dokument über das Leben im faschistischen Deutschland, über das Kämpfen im Zweiten Weltkrieg und über das Desertieren und Sterben an der norditalienischen Front. Wer heute gegen Rechtsradikalismus aufsteht, kann hier lernen, was passiert, wenn dies Aufstehen zu spät kommt.« So hat Henning Scherf, der ehemalige Bremer Bürgermeister, das Buch von Ulrike Petzold eingeleitet.
Es geht darin um Rudolf Jacobs, geboren 1914, Sohn einer renommierten Bremer Architektenfamilie, Matrose, Student, Ingenieur, Marineobergefreiter, Familienvater. Jacobs wurde 1941 eingezogen, im März 1944 zu einem »besonderen Einsatz« an die ligurische Küste im deutsch besetzten Italien beordert. Dort sollte er als »Festungspionier« die vorhandenen Bunker und Verteidigungsanlagen des »Vallo Ligure« zusammen mit der Organisation Todt gegen mögliche alliierte Angriffe abwehrtüchtig machen. Er wechselte die Seite und kämpfte als Comandante Rodolfo mit den ligurischen Partisanen der »Brigata Garibaldi ›Ugo Muccini‹« gegen den »Nazifascismo« der Deutschen und die »Schwarzen Brigaden« Mussolinis.
Bereits im Sommer 1943 waren die Alliierten auf Sizilien gelandet. Mussolinis Nachfolger, Marschall Pietro Badoglio, schloss mit den Alliierten einen Waffenstillstand. Die Deutschen installierten mit dem »befreiten« Mussolini einen faschistischen Vasallenstaat in Salò am Gardasee, die »Repubblica Sociale Italiana«. Deren Streit- und Polizeikräfte und ihre faschistischen Kampfeinheiten, die »Schwarzen Brigaden«, beteiligten sich an der nun folgenden brutalen Besatzung durch die Deutschen. Norditalien wurde zu einem der heftigsten und blutigsten Kriegsgebiete im Zweiten Weltkrieg, so der Historiker Lutz Klinkhammer. Er und der Historiker Carlo Gentile kommen im Buch neben vielen Zeitzeugen als Experten zu Wort. »Die Wehrmacht versuchte, möglichst wenig Boden (…) preiszugeben, und das Land wurde ausgebeutet: 600.000 Menschen, ehemalige Soldaten und Zivilisten (…) zur Zwangsarbeit in Deutschland eingesetzt.« Für jeden Überfall der schnell anwachsenden italienischen Partisanengruppen »rächten« sich die Deutschen mit barbarischen »Sühneaktionen« gegen die Zivilbevölkerung. Ulrike Petzold zitiert aus Lageberichten der »Seekommandantur Riviera« aus dem Freiburger Militärarchiv, die zeigen, dass Gewaltexzesse der offiziellen Linie der Heeresführung entsprachen. Jacobs lebte und arbeitete »inmitten des NS-Terrors«.
Aufmerksam auf Jacobs wurde die Bremer Rundfunkautorin auf einer Italien-Reise an der ligurischen Küste im Sommer 2018 durch ein vergilbtes Plakat, das zu einem Film über ihn einlud. In der Kleinstadt Sarzana in der Nähe von La Spezia begegnete sie ihm erneut – auf einem Marmorrelief an der Villa Laurina an der Piazza San Giorgio. Jacobs war in Norditalien offenbar bekannt und hochgeehrt, die kleine Gedenktafel im Bürgerhaus Bremen-Vegesack hingegen, die auf ihn hinwies, kannten nur ganz wenige. Sie war 2014 »dem unbekannten Deserteur« hinzugefügt worden, dem Mahnmal, das ehemalige Bundeswehr-Soldaten 1986 initiiert hatten. Zu diesem Zeitpunkt war Desertion ein Tabu.
Das Verschweigen gehört deswegen auch zur Geschichte Jacobs. Er galt lange Zeit als Kriegs- und Vaterlandsverräter. Sein Sohn Rudolf Jacobs jr. berichtete, wie er nur auf Verachtung stieß, wenn er Freunden und Kollegen von seinem Vater erzählte.
An einem Morgen im August 1944 verließ Jacobs in voller Uniform in einem Militärwagen seine Truppe. Er hatte schon vorher Kontakt zu den Partisanen aufgenommen und ihnen Pläne von Bunkeranlagen übergeben. Zuerst wurde er von einem jungen Ehepaar versteckt. Als die Partisanen sicher waren, dass sie ihm trauen konnten, nahmen sie ihn unter dem Decknamen »Primo« als ersten Deutschen bei sich auf. Ihr Kommandant Piero Galantini und der politische Leiter, Paolo Ranieri, später Bürgermeister von Sarzana, wurden seine Freunde. Als die »Schwarzen Brigaden« in Sarzana vierzehn Geiseln festsetzten, darunter den Vater von Galantini, war das für Jacobs, der bis dorthin noch nie mit der Waffe in der Hand gekämpft hatte, der Moment, den Angriff auf die Faschistenzentrale in der Villa Laurina zu wagen. Bei diesem Angriff wurde er erschossen.
Erst zwölf Jahre später erfuhr Jacobs Frau Herta die Wahrheit über ihren Mann, der zunächst als »verschollen« gegolten hatte. Als sie 1959 erstmals mit den beiden Söhnen nach Sarzana reiste, um seine Urne nach Hause zu holen, erlebte sie, wie ihr Mann dort als »buon tedesco« (ein guter Deutscher) geliebt und verehrt wurde. Jacobs jr. entdeckte später in etlichen Wohnzimmern das Foto seines Vaters, auf dem er die beiden Söhne liebevoll umfasst. »Oft stand es auf dem Kaminsims direkt neben der Madonna.« Seiner Tochter Claudia, die 1980 als 18jährige das erste Mal in Sarzana dabei war, wurde erst da bewusst, was damals passiert ist. »Da sind ältere Leute vor mir auf die Knie gegangen und haben mir die Hände geküsst!«
Auch in Bremen erinnert man sich inzwischen an Rudolf Jacobs. In Italien erinnert man sich an ihn, und an den Kampf der Partisanen jedes Jahr am 25. April, dem Anniversario della Liberazione, dem Tag der Befreiung, trotz postfaschistischer Regierung. Dieses Jahr zum 80. Mal.
Ulrike Petzold: Rudolf Jacobs: Ein Bremer Partisan in Norditalien 1944. Eine Annäherung. Mit 144 Abbildungen. Edition Temmen, Bremen 2024, 112 Seiten, 14,90 Euro
Lesung und Buchvorstellung mit Ulrike Petzold am 16. Oktober, Gedenkstätte Lager Sandbostel, Greftstraße 3, 27446 Sandbostel, 18 Uhr, Kinosaal
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