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Aus: Ausgabe vom 16.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Geraubte Kunst

Unterschlupf finden in Massachusetts um 1970: Kelly Reichardts neunter Spielfilm »The Mastermind«
Von Holger Römers
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Josh O'Connor liebt die Kunst

Nach etwa zwei Dritteln von »The Mastermind« ergibt sich für den Protagonisten James (Josh O’Connor) unvermittelt eine neue Perspektive: Kanada sei nur 58 Meilen entfernt, macht ihm sein alter Freund Fred (John Magaro) bewusst, während er den eigenen Bruder in Erinnerung ruft, der im Nachbarland offenbar in einer Hippiekommune lebt. James, nach dem diesseits der US-Grenze wegen eines Museumsraubs gefahndet wird, würde auf jener Farm gewiss »Unterschlupf und Gesellschaft« erhalten, anstatt »allein und schutzlos umherzutreiben«.

Diese von Fred entworfene Alternative berührt ein Kernthema von Kelly Reichardts Kino: »Die Idee, die in meinen Filmen wiederkehrt, ist die Frage nach dem Individuum im Unterschied zu einer Person in einer Gemeinschaft, in einer Gesellschaft oder gar als Bürger dieser Welt«, gibt die Regisseurin, die bei ihrem neunten Spielfilm auch für Drehbuch und Montage verantwortlich zeichnet, in einem Interview zu Protokoll. »Kann man wirklich abgeschieden bleiben von dem, was um einen herum passiert?«

James ist allerdings wohl auch als Gegenentwurf zu jener Figur aufzufassen, die im Zentrum des vorangegangenen Films der 61jährigen US-Amerikanerin stand: »Showing Up« (2022) kreist um eine in prekären Verhältnissen lebende Künstlerin, die einerseits in bescheidenem Maße davon profitiert, dass ihre Mutter die örtliche Kunsthochschule leitet, und andererseits als alleinstehende Frau die Ansprüche der Eltern und des Bruders als Belastung empfindet. Dagegen wird der Protagonist von »The Mastermind« als Familienvater mit Pkw und Vorstadthäuschen eingeführt. Doch die vordergründige Solidität dieses gesellschaftlichen Status scheint sogleich durch die in der Handlungszeit, Anfang der 1970er Jahre, ungewöhnliche Rollenverteilung innerhalb der vierköpfigen Kleinfamilie in Frage gestellt: Ehefrau Terri (Alana Haim) bricht morgens zur Arbeit auf, die sie offenbar als Angestellte in einem Architekturbüro verrichtet, während James zu Hause bleibt. Aus einem Halbsatz ist zu schließen, dass sie sich weismachen lässt, der Ehemann wäre als selbstständiger Kunsttischler tätig. Und unter derselben Prämisse findet sich auch dessen Mutter (Hope Davis) wiederholt zu heimlichen Privatdarlehen bereit, während der Vater, ein bornierter Richter (Bill Camp), erwartungsvoll auf einen Jungunternehmer aus der Nachbarschaft verweist, dessen Handwerksbetrieb angeblich floriert.

Tatsächlich hat James wohl nichts anderes getan, als den oben erwähnten Raub zu planen. Diesem Zweck dienten offenkundig auch die ausgedehnten Museumsbesuche, bei denen er in der Anfangsszene sowie während der Titelsequenz zu beobachten ist. Allerdings besteht der Reiz dieses so spröden wie kauzigen Films nicht zuletzt in der Frage, ob der Mann womöglich von ähnlich unwiderstehlicher Leidenschaft für Kunst getrieben wird wie die Protagonistin von »Showing Up«. Nach über einer Stunde erfahren wir jedenfalls aus einer Zeitungsnotiz, dass James selbst Kunst studiert hat. Zuvor war er dabei zu beobachten, wie er vier geraubte Gemälde von Arthur Garfield Dove, einem Vorreiter der abstrakten Malerei in den USA, aufgeregt auf dem heimischen Sofa arrangierte beziehungsweise sogar darüber aufhängte. Zwar spekuliert Freds Lebensgefährtin (Gaby Hoffmann) über einen Hehler, dem James zugearbeitet habe. Doch dessen Umgang mit dem Raubgut lässt nie auf einen konkreten Plan schließen, wie er die schönen Stücke zu Geld hätte machen wollen.

Der Kontrast von Planung und Unbestimmtheit spiegelt sich denn auch subtil in Erzählstruktur und Erzählrhythmus. Das heißt, das erste Filmdrittel folgt in groben Zügen durchaus den Genreregeln eines Heist-Movies, wozu auch unvermittelte Komplikationen im geplanten Ablauf des geschilderten Raubzugs gehören, die gelegentlich im Slapstick gipfeln. Während die herrliche Jazzmusik, die Rob Mazurek eigens für »The Mastermind« eingespielt hat, zunächst die zum Genre gehörende Spannung unterstreicht, macht sie im Umkehrschluss aber ebenso deutlich den Verzicht auf Suspense bewusst, der sich aus der Unbestimmtheit von James’ anschließenden Absichten ergibt.

Die warmen Farbtöne von Herbstlaub und rotem Backstein, die in den Bildern von Reichardts regelmäßigem Kameramann Christopher Blauvelt den anfangs zentralen Drehort prägen (eine 1969 nach einem Entwurf von I. M. Pei errichtete Bibliothek, die hier als fiktives neuenglisches Museum firmiert), weicht derweil zunehmend kühlen Farben, als James in Industriestädte des mittleren Westens verschlagen wird. Unterdessen sind Vietnamkrieg und Antikriegsdemonstrationen stets im Hintergrund präsent, sei es durch TV-Meldungen, Rekrutierungsposter oder Protestplakate. Doch erst durch James’ kuriosen Versuch, ihn mit zwei zum Vorhang umfunktionierten Hemden aktiv auszublenden, wird dieser zeithistorische Kontext in die Handlung eingebunden – so dass die Schlusspointe die Sache dann buchstäblich auf den Kopf treffen kann.

»The Mastermind«, Regie: Kelly Reichardt, USA 2025, 110 Min., Kinostart: heute

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