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Aus: Ausgabe vom 16.10.2025, Seite 7 / Ausland
Regierungskrise in Paris

Lecornu kauft sich frei

Frankreichs Regierungschef setzt Rentenreform aus. Sozialdemokraten knicken ein, Misstrauensvoten von links und rechts
Von Hansgeorg Hermann
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Schon diesen Donnerstag droht ihm der Sturz: Frankreichs neuer Premier Lecornu (Paris, 14.10.2025)

Um dem Sturz seiner erst drei Tage alten Regierung zu entgehen, hat Frankreichs Ministerpräsident Sébastien Lecornu am Dienstag nachmittag die Aussetzung der Rentenreform angeboten, die im Frühjahr 2023 gegen den massiven Widerstand der Bevölkerung per Dekret beschlossen worden war. Zwei Misstrauensanträge in der Nationalversammlung muss Lecornu an diesem Donnerstag dennoch überstehen. Eingereicht wurden sie zu Wochenbeginn von der linken Partei La France insoumise (LFI) und dem ultrarechten Rassemblement National (RN). Die Chancen, beide Abstimmungen zu überleben, stehen für Lecornu inzwischen nicht schlecht, da der sozialdemokratische Parti Socialiste (PS) den LFI-Antrag nicht befürworten wird. Aus dem gemeinsamen Bündnis mit LFI, den Grünen und den Kommunisten (PC) ist der PS vorläufig ausgestiegen.

Unter dem Namen Nouveau Front Populaire (NFP) hatte das Linksbündnis im Juli 2024 die Parlamentswahlen gewonnen, wurde allerdings von Staatschef Emmanuel Macron bei der folgenden Nominierung eines Regierungschefs insgesamt viermal übergangen. PS-Fraktionschef Boris Vallaud erklärte nun, Lecornus Angebot sei ein »erster Sieg« gegen Macron, der parteiübergreifend für die seit Monaten andauernde Staatskrise verantwortlich gemacht wird. Der PS werde dem wirtschaftsliberalen Regierungschef daher nicht, wie ursprünglich angekündigt, das Misstrauen aussprechen. LFI und Grüne reagierten enttäuscht: Macron und Lecornu hätten sich »freigekauft« – mit einigen spärlichen Versprechen. In der Tat bedeutet die versprochene »Suspension« keineswegs das Ende der »Reform«, mit der das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre erhöht werden soll. Der NFP hatte nach den gewonnenen Wahlen, bei denen jedoch keine Partei die absolute Mehrheit erreichte, den »vollständigen Widerruf« der »Reform« gefordert.

Der Parti Socialiste »wird am Donnerstag wohl die einzige Oppositionspartei« sein, die nicht gegen Lecornu und dessen von Macron gesteuerte Politik votiere, und er werde es daher schwer haben, »künftig mit ihren Partnern zu verhandeln«, zitierte die Pariser Tageszeitung Libération am Mittwoch einen namentlich nicht genannten Sprecher der Partei. Für die Gewerkschaften sei Lecornus Angebot an die Nationalversammlung – »Wir werden vorschlagen, wir werden debattieren, das Parlament wird abstimmen« – ohnehin nichts als eine »Zeitverschiebung« zugunsten der Kapitalseite. Ähnlich positionierte sich Cyrielle Chatelain, Fraktionschefin der Grünen: Die »kleine Suspendierung« einer Reform sei dieser Tage zu einem politischen »Handelsobjekt« zwischen Regierung und Teilen des Parlaments verkommen. »Und dies in einer Zeit, in der Luxuskonzerne ihre Gewinne um 400 Prozent erhöht haben, während ganze Familien nicht mehr von ihrer Arbeit leben können.«

Immerhin versprach Lecornu in seiner rund eine Stunde dauernden Erklärung, dass die Regierung das Budget für 2026 diesmal nicht mit Hilfe des Verfassungsartikels 49.3 per Dekret verabschieden, sondern die Debatte und das Votum der Nationalversammlung akzeptieren werde. Während die bürgerliche Rechte, Les Républicains, den Haushalt mit der »Streichung unproduktiver Ausgaben« – vor allem in der Verwaltung und im Sozialbereich – sanieren will, fordert die linke Opposition eine harte Besteuerung der Superreichen. Die nach dem französischen Ökonomen Gabriel Zucman benannte Steuer war im vergangenen Februar in der Nationalversammlung bereits beschlossen, allerdings im Juni von der rechtslastigen zweiten Kammer, dem Senat, wieder verworfen worden. Lecornu habe nun erneut »alles getan«, höhnte der besagte Wirtschaftsprofessor am Dienstag, »um Bernard Arnault und die anderen französischen Milliardäre zu verschonen«.

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