Staatschef im Abseits
Von Bernard Schmid
Wo steckt denn der Staatspräsident? Um diese Frage war am Sonntag und Montag in Madagaskar ein großes Rätselraten entbrannt. Laut Onlinegerüchten von Montag morgen habe er die dreißig Millionen Einwohner zählende Rieseninsel im Südosten Afrikas im Laufe des Vortags verlassen. Präziser hieß es sogar, er sei in einem Helikopter auf die Insel Sainte-Marie nahe der Ostküste des Landes geflogen und von dort an Bord eines Transportflugzeugs der französischen Armee evakuiert worden. Am Montag gegen 14 Uhr verbreitete dann auch der im französischsprachigen Afrika einflussreiche Rundfunksender Radio France International (RFI) diese Meldung und berief sich dabei auf eine eigene Quelle.
Das Präsidialamt in Antananarivo wiederum hatte diese Behauptungen zuvor energisch dementiert: Der 51jährige Staatschef Andry Rajoelina befinde sich in seinem Büro und arbeite. Klarheit schaffen sollte am Montag abend eine Ansprache, welche Rajoelina ab 19 Uhr an die Bevölkerung halten sollte, wie auf seiner Facebook-Seite angekündigt wurde. Nicht dementiert wurde allerdings die ebenfalls in Umlauf befindliche Information, wonach Christian Ntsay, der Ende September als Premierminister von Rajoelina geschasst worden war, und der dem Präsidenten nahestehende Geschäftsmann Mamy Ravatomanga bereits am Samstag abend auf die Insel Mauritius geflohen seien.
Zugespitzt hatte sich die Lage am Sonnabend. Zunächst waren bei neuerlichen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Einsatzkräften in dem Inselstaat, der seit dem 25. September von heftigen Jugend- und Sozialprotesten erschüttert wird, zwei weitere Menschen getötet worden. Die bislang letzte Zählung der Vereinten Nationen hatte die Zahl der durch Repressionen Getöteten Ende September auf 22 beziffert, die der Verletzten auf rund 100. Präsident Rajoelina seinerseits behauptete zuletzt, es seien »nur« zwölf Personen getötet worden, ihm zufolge »alles Plünderer und Randalierer«. Ausgelöst worden war die Revolte durch ständige Strom- und Wasserabschaltungen für die Bevölkerung. Mittlerweile fordert das aufrufende »Kollektiv Generation Z« aber auch explizit den Rücktritt des Präsidenten.
Im weiteren Verlauf des Sonnabends kam es dann zu einer neuen Entwicklung: Eine Einheit der Streitkräfte, das CAPSAT – Abkürzung für »Armeekorps der Verwaltungs- und technischen Angestellten und Dienste« –, erklärte, sich fortan zu weigern, auf Protestierende zu schießen. Dies wurde als Meuterei gewertet. Diese Einheit ist in Soanierana an der Peripherie der Hauptstadt Antananarivo stationiert und hatte bereits 2009 an einem Militärputsch teilgenommen, der ebenfalls durch Massenproteste ausgelöst worden war. Selbiger Putsch hatte damals Andry Rajoelina zum ersten Mal an die Macht gebracht. Er übte sie daraufhin fünf Jahre lang aus, bevor er eine Legislatur später 2019 an sie zurückkehrte.
Am Sonntag nahmen daraufhin Militärs aus den Reihen des CAPSAT an einer Kundgebung auf einem öffentlichen Platz der Hauptstadt für die Todesopfer der Tage zuvor teil. Unter ihnen befand sich der Oberst Michaël Randrianirina. Er gilt als »Kopf der Meuterei«. Aber auch der 2009 durch die Armee und Rajoelina gemeinsam gestürzte Vorgängerpräsident Marc Ravalomanana tauchte dort auf – der Mann scheint einen Sinn für Opportunitäten zu besitzen. Am selben Tag kündigte das CAPSAT die Einsetzung eines neuen Generalstabschefs in Gestalt des Generals Démosthène Pikulas an, allerdings ohne den Staatschef zuvor einzuweihen – normalerweise wäre ein Präsidentendekret für eine solche Ernennung erforderlich. Der Posten war vakant, seit Pikulas’ Vorgänger Manantsoa Deramasinjaka Rakotoarivelo von Rajoelina zum Verteidigungsminister ernannt worden war. Am Sonntag abend akzeptierte Rakotoarivelo dann in seiner Eigenschaft als Minister den neuen Generalstabschef. Dem Staatspräsidenten schien zugleich das Heft der Initiative aus den Händen geglitten.
Im Hintergrund des Protests und des erhofften politischen Umbruchs steht die sozioökonomische Lage weiter Teile der Bevölkerung des Inselstaats. 80 Prozent leben unter der Armutsschwelle der Weltbank von 2,80 Euro pro Tag.
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- gemeinfrei20.10.2023
Kolonialismus 2.0
- REUTERS/Siphiwe Sibeko05.08.2021
Ölspur führt zu Tätern
Regio:
Mehr aus: Ausland
-
Brüchige Waffenruhe
vom 14.10.2025 -
Symbolfigur nicht dabei
vom 14.10.2025 -
Alter Grenzkonflikt eskaliert
vom 14.10.2025 -
Gefährliches Kalkül im Ukraine-Krieg
vom 14.10.2025