»Faktisch wird das System ausgetrocknet«
Interview: David Bieber
Warum sind die für 2026 veranschlagten 25,7 Milliarden Euro im Schuletat immer noch viel zuwenig, um die vielen Probleme im Bildungsbereich in Nordrhein-Westfalen zu beheben?
Der Rekordetat klingt beeindruckend, doch in der Realität ist er eine Fata Morgana. Denn entscheidend ist, was tatsächlich im Bildungssystem ankommt. Nicht alle bereitgestellten Gelder fließen tatsächlich ins System Schule oder bleiben dort. Unbesetzte Stellen sind zwar im Haushaltsplan veranschlagt, werden aber nicht ausgezahlt, sondern am Jahresende in den Landeshaushalt zurückgeführt. Allein durch 7.000 unbesetzte Lehrkräftestellen fließen jährlich zirka 450 Millionen Euro in den Gesamthaushalt zurück. Dazu kommen Hunderte vakante Stellen etwa bei Schulleitungen sowie zahlreiche Lehrkräftestellen, die durch Seiteneinsteiger besetzt werden. Sie kosten das Land weniger. Diese Rückflüsse summieren sich Jahr für Jahr zu einem gewaltigen Betrag. Also Geld, das im System Schule dringend gebraucht wird, dort aber nie ankommt. Aus unserer Sicht ist das eine verdeckte Form der Einsparung: Offiziell steigen die Bildungsausgaben, faktisch aber wird das System durch unbesetzte Planstellen und fehlende Investitionen ausgetrocknet.
Ist es nicht auch so, dass die Bildungsausgaben langsamer wachsen als der Gesamthaushalt?
Das ist eine seit Jahren beobachtbare Tendenz. Die nominellen Bildungsausgaben steigen, doch im Verhältnis zum Landeshaushalt schrumpft der Anteil – ein klassischer Fall von Scheinwachstum. Die Landesregierung redet von Rekordausgaben, spart aber faktisch an der Zukunft. Denn diese indirekten Kürzungen spüren Kinder, Studierende, Familien und Beschäftigte täglich – in maroden Gebäuden, fehlender Unterstützung, übervollen Klassen und ausgedünnten Kollegien.
Also ist der »Rekordetat« eigentlich ein Sparprogramm?
Trotz aller politischen Ankündigungen bleibt NRW im bundesweiten Vergleich der Schulsysteme im unteren Drittel und bei der Lehrenden-Studierenden-Relation landet das Land regelmäßig auf den hinteren Plätzen. Wenn Bildung wirklich »Chefsache« wäre, wie der Ministerpräsident immer wieder betont, dann müssten sich diese Investitionen endlich in den Klassenzimmern, Seminarräumen und Kitas bemerkbar machen. Die angekündigten Verbesserungen versickern – vor Ort kommt davon kaum etwas an. Das Tückische an fehlenden Investitionen ist: Sie haben verheerende Folgen auf lange Sicht. Man merkt das nicht von heute auf morgen, aber auf einmal fehlen Räume, Personal und Perspektiven.
Die GEW fordert vor allem mehr Lehrer?
In Kitas und Schulen braucht es mehr Fachkräfte, denn wir wissen: Gute Bildung ist Teamarbeit. Sie gelingt nur, weil viele Professionen gemeinsam wirken. Jede und jeder einzelne trägt dazu bei, dass Bildung gelingt und Schulen Orte des Lernens, der Teilhabe und der Entwicklung werden. Damit wir aber mehr Fachkräfte gewinnen und die Menschen im Beruf halten, die bereits im System sind, braucht es endlich attraktive Arbeitsbedingungen. Allein in den vergangenen Jahren haben etwa 2.000 Lehrkräfte den Schuldienst verlassen – aus Überlastung und dem Gefühl, dass sich nichts ändern wird. Das ist ein Alarmzeichen eines Systems am Limit.
Schüler zwischen Dortmund und Duisburg sind besonders abgehängt. Was braucht es hier neben mehr Geld?
Mehr Zeit, mehr Personal und mehr Mut braucht es neben dem Geld. In den besonders belasteten Städten und Regionen braucht es Zeit für die pädagogische Arbeit an den und mit den Kindern. Bildungsarbeit ist pädagogische Arbeit und deshalb immer auch Verhältnis- und Beziehungsarbeit. Oftmals fehlen für diese Beziehungsarbeit allerdings die Zeit oder das Personal. Daneben braucht es den Mut der Behörden, den belasteten Schulen Freiheiten zu geben, um ihre Schulentwicklung voranzutreiben. Die Gewinnerschulen des Deutschen Schulpreises zeigen das immer deutlich: Auch in diesem System ist viel möglich. Diese Beispiele müssen politisch als Blaupause benutzt und in die Fläche getragen werden. Es gibt so viel Potential, das an Bürokratie und formalen Hürden scheitert. Wir müssen die Metropole Ruhr zur Bildungsregion machen und die Kitas und Schulen stärken, denn der Strukturwandel betrifft nicht nur die Industrie, sondern die Region als Ganzes.
Ayla Çelik ist Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen
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