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Aus: Ausgabe vom 11.10.2025, Seite 10 / Feuilleton
Matthias Reichelt 70

Wenn schon wir nicht freundlich sind

… wie soll das erst im Sozialismus klappen? Am 12. Oktober wird der jW-Autor und große Menschenzusammenbringer Matthias Reichelt 70
Von Gerhard Hanloser
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Guter Mann: Matthias Reichelt

Er ist ein gestandener Linker und ein kluger Mensch der Kultur. Einen »Kulturlinken« möchte man ihn dennoch nicht nennen. Matthias Reichelts kulturelle Weltläufigkeit ist kombiniert mit der »Treue zum Ereignis« (Badiou). Das Ereignis, sein Ereignis, ist die Westberliner Linke der 70er und 80er Jahre. Ihre aufklärerischen Einsichten und Haltungen hat er verinnerlicht, sie geben ihm Bodenhaftung. Das Verschwinden von Sozialistischer Einheitspartei Westberlins und Sowjetunion ist nicht nur ein persönliches Problem, sondern – wie man tagtäglich sieht – ein weltpolitisches. Den 1955 in Leipzig Geborenen schmerzt besonders, dass sich selbst im vermeintlich emanzipatorischen Kunstmilieu antirussische und modernisierte antibolschewistische Ideen gehalten haben.

Mit seinen Eltern ging er nach Karlsruhe, doch Berlin sollte seine Heimat werden. Matthias war lange Zeit für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) zuständig. 1981 wurde er dort Mitglied, noch als Student der Amerikanistik. Die NGBK verstand sich als linkes Gegenstück zur 1965 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Bildende Kunst (DGBK). Die sollte im Kalten Krieg Westberlin gegenüber der DDR als kulturell vital erscheinen lassen. Sie löste sich nach Protesten 1969 auf. Daraufhin wurde 1969 der ebenfalls bürgerliche Neue Berliner Kunstverein (NBK) gegründet, drei Tage später die linke NGBK. Matthias arbeitete an dem bis heute und gerade jetzt relevanten Bildband »Das andere Amerika« über Geschichte, Kunst und Kultur der US-amerikanischen Arbeiterbewegung mit, der 1983 im Elefanten Press Verlag erschien.

Matthias widmet sich so vielen wie vielseitigen Projekten. Vom Berliner Fotografen Hansgert Lambers über den New Yorker NO!artist Boris Lurie bis zu verrückten Künstlern wie Blalla W. Hallmann, der sich in einer Grauzone von Surrealismus und Außenseiterkunst bewegte – sie alle waren schon Gegenstand seiner Filme und Texte. Das Queere und Grenzüberschreitende in Kunst und Leben interessierte Matthias, lange bevor es in Gestalt einer merkwürdigen Identitätspolitik zum Anlass moralinsaurer Bekenntnisse der linken Szene verkam. Der Völkermord an den europäischen Juden, aber auch der an den Sinti und Roma, und deren Verarbeitung in der Kunst, sind Matthias Lebensthemen. Völlig berechtigt wurde er deshalb 2015 zusammen mit Lith Bahlmann mit dem Hans-und-Lea-Grundig-Preis ausgezeichnet. Dass er zur kritischen Selbstbeobachtung fähig ist, hat er vielen voraus. So erzählte er gerne von einem Treffen mit einem jüdischen Bildhauer in New York in den 80ern, dessen Werke er in der die Ausstellung »Das andere Amerika« zeigen wollte. Als er ihn traf, habe dieser ihn zuerst gefragt, was er denn über jüdische Kultur wüsste. Nun, er sei Marxist und Antifaschist, sagte der junge Matthias. Leihgaben bekam er so nicht. Seine Antwort sei wohl viel zu selbstgefällig und naiv gewesen. Für Matthias ein einschneidendes Erlebnis.

Mit seiner langjährigen Lebensgefährtin Josefine Geier bildet er ein starkes Produktionspaar. Und man kann mit ihm hervorragend diskutieren. Denn Matthias hört zu und ist dazu in der Lage, einen Dissens nicht nur festzustellen und auszutragen, sondern auch auszuhalten. Die zionistisch unterlegte Israel-Solidarität des in Leningrad geborenen jüdischen KZ-Überlebenden Boris Lurie, der Bilder der Schoah mit Pin-Ups collagenhaft kombinierte, mochte er nicht teilen. Doch dessen No!art-Kunst erkannte er frühzeitig als Kritik an erstarrten Gedenkritualen – sie wurden Freunde. Beide trafen sich in ihrer Ablehnung des Mainstreams, wobei einer von beiden die kapitalistische Warengesellschaft lediglich in Gedanken ablehnte und Millionär wurde.

Matthias ist ein Netzwerker. Er ist hilfsbereit, zuweilen etwas zu gutmütig, was ihn selbst unerträgliche Menschen ertragen lässt. Als Lektor, Journalist, Kurator und Herausgeber bringt er Menschen zusammen und versorgt sie gerne mit wichtigen Informationen, so mittels seiner politischen Mailingliste »dit und dat«. Am wichtigsten jedoch: Er kann das bereits im Hier und Jetzt an den Tag legen, was laut Bertolt Brecht vielen Linken aufgrund des Zorns über das Unrecht verwehrt ist: Freundlichkeit zu üben. Denn wenn schon wir das nicht schaffen, so sagt er völlig richtig, wie soll das im Sozialismus klappen? Die junge Welt schätzt sich glücklich, ihn zu ihren Autoren zu zählen. Wir gratulieren einem warmherzigen Menschen zum 70. Geburtstag!

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