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Frontstadtkunst

Von Helmut Höge
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Nach Ost- und Westberlin pilgerten nicht nur Militärs und Spione, sondern auch Künstler. 1984 war die Kunstszene im Prenzlauer Berg ebenso wie die in Kreuzberg auf dem Höhepunkt ihrer Kreativität. In Ostberlin standen renovierungsbedürftige Häuser leer, in Westberlin Fabriketagen und Läden. Hier- wie dorthin zogen vor allem junge Menschen, die nach Thomas Kapielski »im Malen eine Eins und im Rechnen eine Fünf hatten«.

Der »Problembezirk« Kreuzberg war bereits einige Jahre nach dem Krieg zu einer »Kunstwiege« geworden, an der Kurt Mühlenhaupt, Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell standen. Erst in einigen kaputten, aber gut geheizten Kneipen, ab 1959 mit der Galerie »Zinke« in der Oranienstraße.

Schon 1964 registrierte Ingeborg Bachmann, dass Kreuzberg schwer »im Kommen« sei. In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises führte sie dazu aus: »Die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. Dazu muss man sich die Haare lang wachsen lassen, muss herumziehen, muss herumschreien, muss predigen, muss betrunken sein und die alten Leute verschrecken (…). Man muss immer allein und zu vielen sein, mehrere mitziehen, von einem Glauben zum andern. Die neue Religion kommt aus Kreuzberg, die Evangelienbärte und die Befehle, die Revolte gegen die subventionierte Agonie. Es müssen alle aus dem gleichen Blechgeschirr essen, eine ganz dünne Berliner Brühe, danach wird der schärfste Schnaps befohlen, und immer mehr Schnaps, für die längsten Nächte. Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist, die Kleine Weltlaterne zahlt sich schon aus, die Prediger und die Jünger lassen sich bestaunen am Abend und spucken den Neugierigen auf die Currywurst.« Später dann auf den Döner.

Wenig später kam noch eine ansehnliche Gruppe von Flüchtlingen aus Wien dazu, die sich im »Exil« am Paul-Lincke-Ufer ansiedelte, beginnend mit dem Kybernetiker und Gastwirt Oswald Wiener, dessen Tochter Sarah heute ihre Bioküche auch in einigen Kunstinstitutionen pflegt. Noch später eröffnete der ehemalige Berufsrevolutionär Pierro, der in Westberlin italienische Gastarbeiter organisieren sollte, ein gehobenes italienisches Restaurant nach dem anderen.

1977 eröffnete eine Gruppe sogenannter junger Wilder am Kreuzberger Moritzplatz eine Galerie, weswegen man sie auch die »Moritzboys« nannte. »Wir erst haben Berlin dann an den Weltkunstmarkt angeschlossen. Die Paris-Bar wurde zum absoluten Muss der Kunstwelt«, meinte der Maler Markus Lüpertz 1995 in einer SFB-Dokumentation: »Wüste Westberlin«.

In den 80er Jahren wurden beide Bezirke atmosphärisch von Künstlern, Punks und Antifas dominiert. In Kreuzberg fuhren immer mehr Touristenbusse durch, und einige Punker in der Oranienstraße malten Schilder: »Ein Foto – eine Mark!« Es standen noch immer viele Wohnungen leer oder waren billig zu mieten, deswegen zogen auch immer mehr türkische Gastarbeiter aus ihren Betriebswohnheimen in den »Kiez«.

1987 schrieb die Spiegel-Reporterin Marie-Luise Scherer über die dortige »Scene«: »Eine Frau darf hier scharf aussehen, den Pelz geschützter Tierarten tragen und Gold auf den Lidern, wenn ihr darüber nicht das irisierende Moment von Sperrmüll abhanden kommt.« Ähnlich hatte das zuvor bereits die Europakorrespondentin des New Yorker gesehen: »Früher war Kreuzberg düster und schmutzig. Dann aber war es düster und schmutzig – und hatte Flair.«

Türkische Kommunisten hatten Souterrainwohnungen und Keller als Kultur- und Arbeitervereine gemietet, wo sie diskutierten, rauchten und Tee tranken. Langsam eingerichtet, begannen nicht wenige von ihnen, Hinterhofmoscheen zu besuchen. Die Läden wurden bald als Fußballvereinsheime, dann als Shisha-Bars genutzt. Die Künstler richteten ihre Ausstellungsräume jetzt in Kellern ein. Dabei kam es zu Konflikt mit Autonomen. Diese versuchten, teilweise erfolgreich, einige »Schickimickilokale« im »Problembezirk« mit Scheiße »wegzukübeln« und zerstörten mehrere Kunstobjekte und Ausstellungen. Für diese »Kiezmiliz« waren die Künstler die Speerspitze der »Gentrifizierung«. Dann kamen die »Dachgeschosslumpen«, also Gutverdienende, die in ausgebaute Dachböden zogen.

Inzwischen haben die Gentrifizierer in Prenzlauer Berg und Kreuzberg »gewonnen«. In beiden Bezirken dominieren öde Bars und Restaurants.

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