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Aus: Ausgabe vom 11.08.2025, Seite 12 / Thema
Antisemitismus

Begrifflicher Bärendienst

Vorabdruck. Nicht erst seit Beginn des Gazakrieges wird in Deutschland mit einem verzerrten Antisemitismusbegriff hantiert. Das hilft auch, deutsche Schuld zu verdrängen
Von Georg Auernheimer
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Es sind in der Regel Israel-Fans, die den Staat und das Judentum gleichsetzen, um Kritik an ersterem zu delegitimieren. Damit entwerten sie zugleich den Kampf gegen echten Antisemitismus (Hamburg, 17.5.2025)

In den kommenden Tagen erscheint im Papyrossa-Verlag das Buch »Zweierlei Antisemitismus. Staatsräson vor universellen Menschenrechten?« von Georg Auernheimer. Darin erarbeitet der Autor nicht nur einen differenzierten Begriff von Antisemitismus und seinen Ursprüngen, sondern gibt auch einen historischen Abriss über Antisemitismus in der Bundesrepublik und das Verhältnis zum Staat Israel. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag ein Unterkapitel zum Verhältnis zwischen der BRD und Israel von 1991 bis 2023. Das Buch kann bestellt werden unter www.papyrossa.de. (jW)

Mit dem Ende des Kalten Krieges und der weitgehenden Öffnung der Grenzen setzte bei den jüdischen Gemeinden in Deutschland ein demographischer und kultureller Wandel ein. Denn ab 1991 fanden Menschen jüdischer Herkunft aus der ehemaligen Sowjetunion und deren Nachfolgestaaten als Kontingentflüchtlinge in der Bundesrepublik Aufnahme. Die Kultusgemeinden wurden damit gestärkt, wenn auch viele der neuen Mitglieder dem Judentum entfremdet waren. Ob die Veränderung innerhalb der Mehrheitsgesellschaft überhaupt registriert wurde, muss offen bleiben. Moshe Zuckermann meinte einmal, dass man die Juden eher als abstrakte Einheit wahrnimmt, nicht konkret im unmittelbaren lebensweltlichen Kontext, sie lieber auf Distanz hält, so sein Eindruck.¹

Nach dem Anschluss der DDR war man wiederum stark mit eigenen Problemen beschäftigt, und in Israel schien sich nach Ende der Intifada, die sich 1987 am permanenten Ausbau der israelischen Siedlungen entzündet hatte, alles zum Guten zu wenden. Die US-Administration initiierte, um die Lage zu beruhigen, die Verhandlungen von Oslo. Einen ersten Anlauf hatte man schon 1991 in Madrid mit einer Nahostkonferenz gemacht. In Oslo erkannte die PLO unter Jassir Arafat das Existenzrecht Israels an und begnügte sich mit der Selbstverwaltung für die Westbank und Gaza.

Die Abkommen waren im Ergebnis einseitig und für die Palästinenser enttäuschend, zumal die besetzten Gebiete auch noch in drei Zonen mit unterschiedlicher administrativer Zuständigkeit unterteilt wurden. Dennoch wurde die Autonomiebehörde für deren Befriedung in die Pflicht genommen. Der Zweistaatenlösung war der israelische Ministerpräsident Jitzchak Rabin ausgewichen. Das Abkommen veranlasste Israel nicht einmal zum Stopp des Siedlungsbaus. Der wurde im Gegenteil ab 1996 vorangetrieben, was die Anzahl der Siedler (300.000) aus dem Jahr 2010 zeigt.² Deshalb bemühten sich die USA im Jahr 2000 in Camp David nach festgefahrenen Verhandlungen 1998 und 1999, zumindest vordergründig, noch einmal, den Status Palästinas zu verbessern. Aber die Verhandlungen scheiterten, weil Israel zu keinen Zugeständnissen bereit war, auch nicht dazu, den Rechtsstatus von Ostjerusalem gemäß UN-Resolution wiederherzustellen.

In der deutschen Öffentlichkeit wurden die Osloer Abkommen jedoch als »Meilensteine im Nahostfriedensprozess« gefeiert,³ was der Realität in keiner Weise entsprach, wie nicht zuletzt die Bemühungen der US-Administration um eine Nachbesserung deutlich machen. Aber der »Friedensprozess« war und ist für die deutschen Leitmedien nichts Reales, sondern ein Ideal, ein geisterhaftes Subjekt, was Renate Dillmann in ihrer Medienanalyse am Sprachgebrauch festmacht. Der Friedensprozess »stockt« immer nur oder ist »in Gefahr«.⁴

Die Einseitigkeit der Berichterstattung über den Nahostkonflikt nahm in dem Maße zu, wie die Hamas nach dem Scheitern der Verhandlungen von Camp David II die Führung im Widerstand von der kompromissbereiten PLO übernahm und zunehmend mit Anschlägen in Erscheinung trat.⁵ Seitdem ist die Berichterstattung, zumindest in den Mainstreammedien, beschönigend und parteilich, weil Journalisten die Rechtsansprüche der Palästinenser nicht ernst nehmen.

Deutsches Verdrängen

Als ein wichtiges Diskursereignis der 1990er Jahre kann die Dankesrede von Martin Walser (1927–2023) für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gelten, die er am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche hielt. Nachdem sie auf heftige Kritik, vor allem seitens des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, gestoßen war, beschäftigte die Walser-Bubis-Debatte einige Monate hindurch die Medien.

Walser, der sich in der Rede dem Thema Holocaust nur auf Umwegen nähert, beklagt für sich den Verlust der Unbefangenheit bei der Betrachtung der Welt und den allgegenwärtigen »Rechtfertigungszwang«. Er will sich die Verdrängung nicht verbieten lassen. »Ich käme ohne Wegschauen und Wegdenken nicht durch den Tag und schon gar nicht durch die Nacht. Ich bin auch nicht der Ansicht, dass alles gesühnt werden muss.« Er wehrt sich gegen öffentliche Schuldbekenntnisse. Denn: »Gewissen ist nicht delegierbar.« Er äußert den Verdacht, »in den Medien sei auch eine Routine des Beschuldigens entstanden«. Und spricht von »Meinungssoldaten« mit »vorgehaltener Moralpistole«. Gegenstand von Walsers Rede ist die Schande, kaum die Schuld. Er mutmaßt »die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken«. Das damals in der Planung befindliche Holocaustdenkmal in Berlin bedeutet für ihn die »Monumentalisierung der Schande«.

Dass das Paulskirchenpublikum bis auf Ausnahmen stehend applaudierte, muss Ignatz Bubis erschüttert haben. Er warf Walser »geistige Brandstiftung« vor. Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein sekundierte Walser und bekräftigte sogar manche seiner Vorwürfe, was auf Kritik stieß. Tobias Jäcker moniert zu Recht, dass die Perspektive der Opfer in Walsers Vorstellungswelt nicht vorkommt. Er schließt daraus, »wie wenig die Perspektive der Opfer im normativen Grundkonsens der Bundesrepublik verankert ist«.⁶

Der Spiegel brachte im Kontext der Debatte zuerst ein Interview mit drei Studierenden jüdischer Herkunft, die kluge Argumente gegen Walser vorbrachten und Kritik daran übten, wie man nach ihrer Erfahrung hierzulande mit der Last der Vergangenheit umgehe, und danach ein Interview mit einer Studentin, die lamentierte, wie sie daheim und im Ausland mit dem Stigma als Deutsche konfrontiert werde.⁷ Hilda, eine von den drei jüdischen Interviewpartnern, über ihre Altersgenossen aus der Mehrheitsgesellschaft: »Die sagen, wir haben damit nichts zu tun. Und ich behaupte: Wir alle haben damit zu tun.« Und Igor: »Dass sich die Deutschen nicht mehr für die Naziverbrechen interessieren (…), das ist Realität.«⁸

Doppelte Standards

In dieser Zeit verschärfte sich der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, wurde auch wie schon einmal in der Vergangenheit von der religiösen Differenz überlagert. Denn die Empörung über das Scheitern aller Verhandlungen, auch zum Status Ostjerusalems, wurde gesteigert durch den provozierenden Besuch des Tempelbergs durch Ariel Scharon im September 2000. Das löste die zweite Intifada aus. Diesmal wurden die jüdischen Israelis mittels Selbstmordanschlägen der Hamas und auch der Al-Aqsa-Brigaden der Fatah bedroht. Israel wiederum griff zu Massenverhaftungen, der Zerstörung der Wohnhäuser von Verdächtigen und der gezielten Tötung von Hamas-Führern. Nach fünf Jahren zählte man rund 1.000 tote Israelis und 3.500 tote Palästinenser. Begründet als Schutz gegen Anschläge, begann Israel 2003 mit dem Bau einer Mauer entlang der Demarkationslinie zwischen Israel und der Westbank, geplant auf 760 Kilometern Länge und mit weiterem Landraub verbunden. Eine Friedensinitiative Saudi-Arabiens im Jahr 2002 scheiterte wiederum, weil Israel den Rückzug aus den besetzten Gebieten und die Gründung eines Palästinenserstaates nach wie vor ablehnte.

Die Geschehnisse während der Intifada wurden in der deutschen Öffentlichkeit einseitig aufgenommen, was – jenseits der Interessenlage – auch den Mechanismen geschuldet war, nach denen Medien arbeiten. Ein Selbstmordanschlag ist ein Aufreger, weckt Empörung. Der Abriss eines Wohnhauses, als Vergeltungsmaßnahme erklärt, ist dagegen keine Schlagzeilen wert. Außerdem gilt das eine als Terrorakt, der Abriss des Hauses der »Täterfamilie« aber als behördliche Maßnahme, die quasi die Ordnung wieder herstellt und weiterem Terror vorbeugt. Diese kommunikativen Mechanismen wirkten nicht nur während der Intifada zuungunsten der palästinensischen Seite. Enzo Traverso macht dafür zusätzlich den Orientalismus verantwortlich, der nach wie vor das Weltbild der Europäer präge.⁹

Im Bundestagswahlkampf 2002 kam es zu einem Eklat, der Licht auf die Wahrnehmung des »Nahostkonflikts« wirft. Der FDP-Politiker Jürgen Möllemann hatte bei einem Auftritt in Aachen gesagt, so lange Israels Ministerpräsident Ariel Scharon gegen den Friedensvertrag von Oslo verstoße, werde er dessen Politik als kriegstreiberisch brandmarken. Das löste einen Sturm der Entrüstung aus. Nicht nur Michel Friedman, damals CDU-Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, stempelte Möllemann zum Antisemiten. Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch sprach von einer »unglaublichen Entgleisung« (SZ vom 17.5.2010).

Populistische Taktik

Ab 2005 – Israel hatte die Siedlungen im Gazastreifen aufgelöst und das Gebiet abgeriegelt – kam die Berichterstattung über die dort regierende Hamas kaum noch ohne Attribute wie »radikalislamisch« oder »barbarisch« aus.¹⁰ Dabei kosteten die Militäroperationen Israels, ab 2006 in Reaktion auf Raketenangriffe des militärischen Arms der Hamas durchgeführt, Tausende Tote. Bei der Operation von 2006 wurden mehrere hundert Menschen getötet und gezielt Infrastruktur zerstört. 2008 wurden bei der »Operation Gegossenes Blei« bis zu 1.000 Zivilpersonen getötet, 2012 »nur« 160, 2014 bei der »Operation Protective Edge« schätzungsweise 1.600 Zivilpersonen, 2021 über 200. Das Ergebnis der drei großen Angriffswellen waren über 3.800 Tote, darunter fast 1.000 Minderjährige¹¹, die weit höhere Zahl an Verletzten, teilweise Invaliden nicht erwähnt. Wohnhäuser, Krankenhäuser und Schulen wurden nicht verschont. Beim »Marsch der Rückkehr« 2018 an der Grenze zu Gaza hatten Scharfschützen den Befehl, die meist jugendlichen Protestierer zu Invaliden zu machen. Ergebnis: 2.000 Verletzte und 30 Tote. Im Goldstone-Bericht war Israel bereits 2009 wegen seines Vorgehens gegen die Bevölkerung von Gaza scharf kritisiert worden.¹²

Auf die Eskalation der Gewalt seitens Israels reagierte man nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in vielen Teilen von Europa mit einem verschärften Vorgehen gegen »israelbezogenen Antisemitismus« – eine sinnentstellende Neuinterpretation von Antisemitismus. Denn Antisemitismus (d.h. seine traditionelle Definition, jW) gründet auf der universellen Geltung der Menschenrechte im Sinn der UN-Charta, d. h. der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Kritikerinnen und Kritiker, darunter nicht wenige selbst jüdischer Herkunft, sprechen, wie Erich Fried schon 1976,¹³ von einem Missbrauch des Begriffs oder Anklagepunkts. Für Rolf Verleger beispielsweise dient der Begriff in dieser Verwendung nur »als Mittel zur Ausgrenzung unliebsamer Meinungen« über Israel.¹⁴ Die israelische Soziologin Eva Illouz schrieb 2021 in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung, das Verdrehen von Begriffen sei »seit langem populistische Taktik«. »Auch der Kampf gegen den Antisemitismus wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten zunehmend politisiert und ist inzwischen jenen Verzerrungen unterworfen, unter denen alle ideologischen Debatten leiden (…). Die Absurdität wird durch die hochtrabende Erfindung ›Neuer Antisemitismus‹ noch verstärkt.« Man verharmlose den Antisemitismus, »wenn man eine gerade Linie von Kritikern israelischer Politik zu eingefleischten, gewalttätigen Antisemiten zieht«.¹⁵ Die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman, seit 2000 Direktorin am Einstein-Forum in Potsdam, im Juni 2022 vor der Konferenz »Hijacking Memory« im Interview: »Unsere Konferenz stellt die Frage: Cui bono? Warum wird der Vorwurf des Antisemitismus gerade jetzt in Deutschland so missbraucht, so inflationär gebraucht und instrumentalisiert?« Sie meinte, dass »der gutgemeinte Antiantisemitismus den Rechten in die Hände spielt, in Israel, aber auch international.«¹⁶

Der Bundestag verabschiedete am 17. Mai 2019 die Resolution »Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen« (BT-Drucksache 19/10191). Darin wird gefordert, »keine Projekte finanziell zu unterstützen, die (…) die BDS-Kampagne aktiv unterstützen«. Mehr als zwanzig Institutionen aus dem Kulturbereich kritisierten in einer gemeinsamen Erklärung: »Der Vorwurf des Antisemitismus wird missbraucht, um wichtige Stimmen zu verdrängen und kritische Positionen zu verzerren.«¹⁷

Staatskonforme Cancel Culture

Unzählige Veranstaltungen israelkritischen Inhalts wurden schon seit mindestens 2005 im deutschsprachigen Raum behindert, wenn nicht verhindert. Schon eine Auflistung für die Jahre 2005 bis 2016 ist seitenlang.¹⁸ Am häufigsten wurden Raumverbote bzw. Entzug der Raumnutzung damit begründet, dass der Veranstalter oder eingeladene Referenten bzw. Künstler die BDS-Kampagne unterstützten. Der Aufruf zum Boykott, zu Desinvestitionen und Sanktionen (engl. Boycott, Divestment, Sanctions) war um 2000 von mehreren NGOs in Reaktion auf die hartnäckige Verweigerung nationaler Rechte für die Palästinenser durch Israel initiiert worden.

Neben Zensur gab es andere scharfe Reaktionen auf sogenannten israelbezogenen Antisemitismus. Einige Ereignisse verdienen eine Hervorhebung.

2012: Über Günter Grass bricht ein medialer Shitstorm herein, weil er eine U-Boot-Lieferung an Israel kritisiert und erklärt hat: »Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.«

2017: Die Bürgermeisterin von Gräfelfing bei München erhält nach eigener Aussage mehr als 300 E-Mails aus der ganzen Welt und Briefe von hochrangigen Vertretern jüdischer Gemeinden »mit drohendem Unterton«, nachdem sie auf Antrag der örtlichen Amnesty-International-Gruppe ein Benefizkonzert für die Menschenrechte in Gaza mit Nirit Sommerfeld als Moderatorin genehmigt hat (SZ-Forum zu Israel-Kritik, 29.12.2020).

2018: Die Verleihung des Aachener Kunstpreises an den libanesisch-amerikanischen Künstler Walid Raad findet ohne die Vertreter der Stadt statt. Vorwurf: Unterstützung der BDS-Kampagne.

2019: Die Verleihung des Göttinger Friedenspreises kann im März nicht wie üblich in der Aula der Universität stattfinden. Man muss auf die Alte Feuerwache ausweichen. Der Preis geht diesmal an die »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«. Die Universitätspräsidentin will eine »einseitige Parteinahme« vermeiden.

2019: Die Stadt Dortmund zieht im September den Nelly-Sachs-Preis für die pakistanisch-britische Schriftstellerin Kamila Shamsie nach entsprechendem Votum der Jury zurück. Vorwurf: Unterstützung der BDS-Kampagne. 250 teils namhafte Künstler und Intellektuelle protestierten gegen die Entscheidung.¹⁹

2020: Im Oktober entzieht die Kunsthochschule Berlin dem studentischen Projekt »School for Unlearning Zionism«, initiiert von israelischen Studierenden, die finanzielle Unterstützung. Vorwurf: Unterstützung der BDS-Kampagne durch einige Beteiligte.

2021: Im Herbst kündigt der WDR der Moderatorin Nemi El-Hassan, nachdem dem Sender Fotos von ihrer Teilnahme an einer Jahre zurückliegenden militanten Al-Quds-Demonstration zugesandt worden waren. Bild hatte auf Postings von ihr auf der Website von »Jewish Voice for Peace« aufmerksam gemacht.

2022: Die Documenta fifteen sorgt für starke Proteste und Rücktrittsforderungen an die Adresse von Kulturstaatsministerin Claudia Roth und der Geschäftsführerin der Documenta. Bundespräsident Steinmeier hat schon vor dem ersten Rundgang der Ausstellung unterstellt, es werde die Existenz Israels angegriffen. Anstoß erregt vor allem das große Banner »People’s Justice« des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi – wegen einer Bildsprache, die sich gemäß europäischer Ikonographie als teilweise antisemitisch verstehen lässt.²⁰ Auch die Bilderserie »Guernica Gaza« von Mohammed Al Hawajri stößt auf Kritik. Bei einigen Intellektuellen trifft die Kampagne gegen die Ausstellung auf Unverständnis, auch weil sie begrüßenswert finden, dass endlich dem globalen Süden eine Stimme verschafft werde. Sie mahnen eine Dialogkultur an.

Alles, der Druck von Pressure-Groups auf Veranstalter oder Journalisten, der Rufmord an Künstlerinnen und Künstlern, Berufsverbote und Zensur von Kulturveranstaltungen, alles wurde mit einem verzerrten Antisemitismusbegriff begründet. Die Opfer der israelischen Militäroperationen und der Siedlergewalt fanden kein Mitleid, von Solidarität ganz zu schweigen. Das sollte sich 2023 nach Beginn des großen Gazakriegs, der am 7. Oktober 2023 von der blutigen Operation der Hamas ausgelöst worden war, bis zur leidenschaftlichen Rechtfertigung israelischer Brüche des humanitären Völkerrechts steigern. Unter Missachtung von UN-Appellen wurden von der Bundesrepublik weiter Waffen an Israel geliefert.

Anmerkungen

1 Moshe Zuckermann: Zwischen Israel-Kritik und Antisemitismus. Versuch einer jüdischen Positionsbestimmung. In: Marcus Hawel und Moritz Blanke (Hg.): Der Nahostkonflikt. Befindlichkeiten der deutschen Linken. Berlin 2010, S. 54–66, hier: S. 55

2 Gershom Gorenberg: Israel schafft sich ab. Frankfurt am Main 2012, S. 113. Im August 2023 lebten 750.000 Siedler in 250 Siedlungen und Vorposten in der Westbank.

3 So zum Beispiel die Überschrift eines Artikels der Bundeszentrale für politische Bildung von 2020, www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/275803/osloer-abkommen-als-meilensteine-im-nahost-friedensprozess/

4 Renate Dillmann: Medien. Macht. Meinung. Auf dem Weg in die Kriegstüchtigkeit. Köln 2025, S. 47

5 1979 waren in Camp David die Friedensverhandlungen mit Ägypten vorbereitet worden (»Camp David I«). Im Jahr 2000 fanden dort die Gespräche zwischen Präsident Bill Clinton, dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde Jassir Arafat und dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak statt, um die Abkommen von Oslo zugunsten der Palästinenser nachzubessern. Aber Barak blieb unnachgiebig gegenüber den Forderungen Arafats.

6 T. Jäcker, 24.10.2003, www.hagalil.com/antisemitismus/deutschland/walser-1.htm

7 Kathi-Gesa Klafke: Also doch Erbsünde? Eine deutsche Studentin wehrt sich gegen Schuldzuweisung. In: Der Spiegel, 53/1998, 27.12.1998

8 Ebd.

9 Der Begriff Orientalismus, wie von Edward Said verwendet, bezeichnet die kolonialistischen Bilder vom Orient. Vgl. Enzo Traverso: Gaza im Auge der Geschichte. Berlin 2024

10 Ebd, S. 96

11 Rashid Khalidi: Der hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand. Zürich 2024, S. 266

12 Dt. Fassung von Abraham Melzer (Hg.): Bericht der Untersuchungskommission der Vereinten Nationen über den Gazakonflikt. Neu-Isenburg 2010

13 Reprint in: Der Semit, 2.5.2018, der-semit.de/ist-antizionismus-anti-semitismus-eine-widerrede

14 Rolf Verleger: Israels Irrweg. Eine jüdische Sicht. Köln 2024, S. 158 ff.

15 Eva Illouz in SZ online, 27.4.2021

16 Susan Neiman in SZ, 9. 6.2022

17 www.haaretz.com/israel-news/.premium.MAGAZINE-in-germany-a-witch-hunt-rages-against-israel-critics-many-have-had-enough-1.9362662

18 nahost-forum-bremen.de/wp-content/uploads/2017/03/17-03-03-liste-behinderter-veranstaltungen.pdf

19 London Review of Books, www.lrb.co.uk/blog/2019/september/the-right-to-boycott

20 Das hundert Quadratmeter große, von kulturellen, historischen und politischen Anspielungen überquellende Agit-Prop-Banner »People’s Justice« symbolisiert ein Volksgericht über die despotische Herrschaft von Suharto und dessen internationale Unterstützer, allen voran die USA. Der US-geführte Putsch, der sich gegen die antikoloniale Regierung Sukarno und gegen die kommunistische Bewegung Indonesiens richtete, hatte einen Massenmord zur Folge, der 1965/66 etwa 1,5 Millionen Menschen das Leben kostete. Das damit installierte Suharto-Regime wurde unter anderem vom israelischen Geheimdienst Mossad unterstützt. Ohne Kenntnis dieses Hintergrunds ist jede Interpretation des Banners fehlgeleitet. Als antisemitisch ausgelegt wurden eine Figur mit Pejes (Schläfenlocken) und einem Hut mit SS-Runen sowie eine Art Soldat mit Schweineschnauze und einem Tuch mit Davidstern. Das Schwein dient nur in der europäischen Tradition der Schmähung der Juden. – Zur Interpretation des Banners vgl. Stefan Ripplinger: Kunst im Krieg. Kulturpolitik als Militarisierung. Köln 2024, Kapitel: »Ausgeblendete Massaker«; zu den politischen Hintergründen vgl. Vincent Bevins: Die Jakarta-Methode. Wie ein mörderisches Programm Washingtons unsere Welt bis heute prägt. Köln 2023

Georg Auernheimer: Zweierlei Antisemitismus. Staatsräson vor universellen Menschenrechten? Papyrossa-Verlag, Köln 2025, 142 Seiten, 14,90 Euro

Georg Auernheimer schrieb an dieser Stelle zuletzt am 5. März 2025 über die Behauptung, Antisemitismus in Deutschland sei »importiert«: »Ein Reimport, kein Erbe«

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (11. August 2025 um 00:00 Uhr)
    Wem oder was wird ein »Bärendienst« erwiesen? Man kann es dem Artikel entnehmen: Dem Begriff! Aber wer interessiert sich bei der kognitiven Kriegführung schon für Begriffe … Die Fußnote 20 zeigt den richtigen Weg auf: Die Jakarta-Methode wird weiterhin angewandt. Weniger nett formuliert: Der Staat Israel ist der Stachel des westlichen Imperialismus/Kolonialismus im arabischen Fleisch, mit dem Potential, selbigem auf die Füße zu fallen. Zuviel Drecksarbeit ist auch nicht gut (für das Image).

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