Gegründet 1947 Dienstag, 7. Oktober 2025, Nr. 232
Die junge Welt wird von 3036 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 07.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Theater

Partei und Partisanen

Die Uckermärkischen Bühnen in Schwedt (Oder) geben Erik Neutschs »Spur der Steine« als fulminantes Schauspiel mit Musik
Von Arnold Schölzel
11.jpg
»Ich bin der neue Parteisekretär.« – »Und ich bin Pittiplatsch, der Liebe.« (Szenenbild)

In Erik Neutschs Roman »Spur der Steine« aus dem Jahr 1964 geht es um Arbeitsorganisation und Arbeitsproduktivität auf einer Großbaustelle der Chemieindustrie – also um die wichtigsten Probleme einer sich stabilisierenden, d. h. inneren, eigenen Triebkräften folgenden sozialistischen Gesellschaft. Auf vornehm: um nichtantagonistische Widersprüche. Das klingt abstrakt und ist es. Neutsch gelang es, das vermeintlich Dröge mit legendären Figuren und tragisch-komischen Geschichten zu erzählen. Die sind: Wie so oft in der DDR-Literatur ein anarchischer Selbsthelfer mit allem Schmelz, den freche Subjektivität haben kann: der Zimmererbrigadier und Baustellennomade Hannes Balla. Der lebenskluge SED-Parteisekretär Werner Horrath, der Balla zäh und gewitzt zum Sozialismus herüberzieht. Zwischen ihnen steht die Bauingenieurin Kati Klee, die vom verheirateten Horrath ein Kind bekommt.

Klassische Motive: Zar und Zimmermann, Götz von Berlichingen, der ausrichten lässt, der oberste Regierer könne ihn im Arsche lecken, und schließlich Romeo und Julia. Bei Neutsch verurteilt die Partei die Liebe zwischen Horrath und Klee. Die Handlung spielt im Jahr 1959 – der Zweite Weltkrieg ist noch nah, die Grenze zur BRD offen, im Roman sagt einer, die »Zone« gebe es wahrscheinlich in zehn Jahren nicht mehr. Ziemlich viel literarisches Holz, das in der DDR in 500.000 Buch­exemplaren verbreitet war. Bereits 1965 aber ließ die SED Heiner Müllers Stück »Der Bau« »nach Motiven« des Romans absetzen, Frank Beyers Film von 1966, ebenfalls »nach Motiven« Neutschs gedreht, verschwand nach von irgendeiner SED-Führungsfraktion organisierten Krawallen bis November 1989 aus den Kinos. Wen interessiert das alles heute?

Am Sonnabend in den Uckermärkischen Bühnen Schwedt so viele Zuschauer, wie der Saal fasst: mehr als 830, zumeist Ältere. Das Theater steht in einem Landkreis, der größer als das Saarland ist, aber nicht wie dieses gut eine Million Einwohner hat, sondern keine 120.000. Weithin unbesiedelt. Angekündigt ist »Erik Neutsch: Spur der Steine. Schauspiel mit Musik. Für die Bühne eingerichtet von Sandra Zabelt«, der Chefdramaturgin, Regie: Intendant André Nicke. Der hält vorab eine erstaunlich lange Rede, in der er zwar die »Verwaltungsebene« des Landeskulturministeriums aus Potsdam, aber leider nicht die politische begrüßen kann. In der er die Aufführung seiner Mutter widmet, einer SED-Genossin, die zunehmend mit ihrer Partei haderte, und die deutsche Einheit »tägliches Überlebenstraining« für Ostdeutsche nennt, sich zur Frank-Castorf-Parole »Wir müssen Gräben aufreißen« bekennt und »Kultur als Daseinsvorsorge« ins Grundgesetz wünscht.

»Wenn Träume sterben«

Klingt anstrengend, aber dann geschieht ein Wunder: Schwer zu sagen, ob die Spielszenen oder die mehr als ein Dutzend mit unglaublich guten Stimmen und einer souverän spielenden, auf der Bühne seitlich auf einem Podest plazierten Band (Leitung Tom van Hasselt) gesungenen Musiktitel aus der DDR – vom Schmachtfetzen bis zum politischen Lied – den Abend bestimmen. Jeder Song wird von den 830 im Saal einzeln beklatscht, manchmal auch in Manier des Musikantenstadls. Melancholischer Haupt- und Schlussakkord: »Wenn Träume sterben«, Text von Wolfgang Tilgner, von den Puhdys 1977 herausgebracht. Die Begeisterung steigt in den dreieinhalb Stunden: Am Ende mehr als zehn Minuten Jubel und rhythmischer Applaus. Was passiert da? Los geht es mit vielen roten Fahnen und der DDR-Hymne, in deren Verklingen die Balla-Brigade auftritt und »Goodbye Johnny« dagegenhält. In den 50er Jahren behauptete die westdeutsche Presse, die Komposition Hanns Eislers sei ein Plagiat des Hans-Albers-Songs, den Peter Kreuder 1939 geschrieben hatte.

Die Musiknummern machen das Schauspiel mindestens zum Musical, vielleicht zur Operette in der Definition von Peter Hacks: Die Einseitigkeit eines Werks der kleinen Kunstgattungen kann in Einfachheit umschlagen, »seine Hübschheit in Schönheit, seine – beschränkte – Vollkommenheit in ein Symbol für Totalität«.

»Also, heizt ein!«

Nach Meinung des Publikums stimmt hier offenbar alles: Die Musik verleiht dem Stoff eine Leichtigkeit, die zündet und ein Ganzes herstellt – eine kongeniale Inszenierungsidee. Die Schauspielerei tritt dahinter nicht zurück, schon allein, weil das Ensemble Freude und ein Können aufbietet, das den Gesangsleistungen nicht nachsteht. Es fällt schwer, einzelne hervorzuheben, aber klar, die Protagonisten Balla (Fabian Ranglack), Klee (Antonia Schwingel) und Horrath (Andreas Schlegel) spielen sich nach vorn. Das einfach-raffinierte Bühnenbild von Frauke Bischinger aus Gerüsten, einem kalkweißen Podest in der Bühnenmitte und einer holzgetäfelten, zumeist als Kneipe genutzten Versenkung davor bietet dem Wust an Szenen vielfältigen Raum. Die Szenenabfolge ist zunächst an die des Films angelehnt – Brigadegang in den Ententeich, Zimmermannstanz, Holzklau, Betonieren bei Frost, Dreischichtsystem. Dem Chaos, das der Plan und ein stets nach oben buckelnder Baustellenchef verursachen, weil Material fehlt oder die Projektierung falsch ist, entspricht die anfängliche Herrschaftslosigkeit der Bauarbeiter, die Horrath zum Arbeiten nach seinen Plänen bringt – das Plandogma verletzend. Im Vergleich zu heutigem Baustillstand, weil angeblich die »Lieferketten« weg sind oder wie bei der Bahn keine Prüfingenieure ausgebildet wurden, erscheinen die Probleme im sozialistischen Betrieb harmlos. Waren sie aber nicht. Der zweite Teil des Abends kreist in Schwedt um die Führungsrolle der SED und deren in diesem Fall zerstörerische Auswüchse. Auch das geschieht mit Gesang: Die engstirnige Stellvertreterin Horraths stimmt zum finalen Fertigmachen »Die Partei, die Partei, die hat immer recht« an, aber es ist Balla, der Horrath mit Hartmut Königs »Sag mir, wo du stehst« konfrontiert. Hier, wie bei den »Partisanen vom Amur« oder Kurt Demmlers »Lied, aus dem fahrenden Zug zu singen« (»Denn wir müssen alle weiterkommen […]. Also, heizt ein!«) geht das Publikum spürbar mit. Fehlt nur noch, dass das auf Jüngere übergreift.

Die Vorstellung findet in einem jener »Salons der Sozialisten« (Architekturhistorikerin Simone Hain), einem als Kreiskulturhaus 1978 errichteten Palast statt, einst gab es vier weitere Kulturhäuser in Schwedt. Der Bau steht seit 2022 unter Denkmalschutz und hat eine Geschichte wie von Neutsch: Als nach der Grundsteinlegung 1974 die Arbeiter zum »Palast der Republik« nach Berlin abgezogen wurden, ließ die SED-Kreisleitung wie Horrath »illegal« weiterbauen und bekam was aufs Dach.

Eine Lehre: Ganz ohne Partei und Partisanen läuft die sozialistische ­Chose nicht. Unter Finanzmarkthyänen und ihren politischen Hilfstrupps läuft immer weniger, siehe die Raffinerie PCK Schwedt, die im Film von 1966 kurz auftaucht. Mag sein, dass einige im Saal am Sonnabend das vor Augen hatten.

Nächste Aufführungen: 10., 11., 24. und 25. Oktober

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. 

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Ehemalige Häftlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der...
    07.08.2025

    Diversion und Propaganda

    Private Helfer von CIA und Co. im Kampf gegen die DDR: Über die »Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit«
  • Peter Hacks und Anna Elisabeth Wiede in ihrer Wohnung in der Gre...
    16.07.2025

    Nach drüben

    Vor 70 Jahren siedelte der Dramatiker Peter Hacks in die Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik über. Die ungewöhnliche Geschichte einer durchaus gewöhnlichen Migration
  • Der Juniorpartner soll aufrüsten: Die 2. US-Panzerdivision mit d...
    04.07.2025

    »Asien steht an der Elbe«

    Der Koreakrieg wurde zum Katalysator der Remilitarisierung der Bundesrepublik

Mehr aus: Feuilleton