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Halluzinationen

Von Helmut Höge
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»In vielen Kulturen gelten Halluzinationen – wie Träume – als besondere, privilegierte Bewusstseinszustände«, ihre »Macht lässt sich nur durch Berichte in der Ich-Form begreifen«, schreibt der englische Neurologe Oliver Sacks in seinem Buch mit diesbezüglichen Fallgeschichten: »Drachen, Doppelgänger und Dämonen« (2013).

Bei den Hmong, einem Bergvolk aus Laos, das nach dem Vietnamkrieg in Kalifornien angesiedelt wurde, herrschte die Überzeugung, dass Alpträume töten können – und tatsächlich starben laut Sacks auch 200 meist junge und gesunde Hmong-Einwanderer einen »plötzlichen und unerklärlichen nächtlichen Tod«. Das könnte aber auch an ihrer ungeliebten urbanen Exilexistenz gelegen haben. Dies legt jedenfalls die Hmong-Recherche der Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing nahe: »Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus« (2018).

Ich habe einmal einen Alptraum gehabt, in dem Hunderte Ratten über mich herfielen – nachdem ich am Tag mit einem Kleinkalibergewehr in einer Müllkippe auf Ratten geschossen hatte. Nie wieder! Auch Halluzinationen kenne ich: Wenn ich als Kind starkes Fieber hatte, schwollen im halbwachen Zustand meine Arme und Beine mit einem sirrenden Ton an. Bei genauem Hinsehen und Fühlen war da aber nichts. Meine Geruchshalluzinationen wiederum sind dergestalt, dass ich manchmal Rauch rieche, obwohl nirgendwo ein Feuer brennt.

Mit akustischen Halluzinationen, »Stimmenhören«, habe ich auch öfter zu tun: Das erste Mal bot uns der Musiker Frank Possekel einen Text mit dem Titel »Neurofaschismus« an, den wir im Gegner veröffentlichten. Frank hörte permanent zwei Stimmen, die etwa so klangen wie ein guter und ein böser Kommissar – und beide wollten ihn zum Suizid überreden. Er konnte lange Zeit nur leidend im Bett liegen – bis er anfing, darüber zu schreiben und in eine Stimmenhörerselbsthilfsgruppe ging. Was vielleicht mit den Handyfunkstrahlen zusammenhängt.

Frank war überzeugt, dass seine zwei schrecklichen Stimmen von außen kamen, nicht aus seinem Gehirn. Ähnlich bei einem Tontechniker namens Heinrich Müller, den ich mal interviewt habe. Er wird seit 2013 »von Funkstrahlen traktiert« und führt bis heute eine umfangreiche Korrespondenz mit verschiedenen rechtsstaatlichen Einrichtungen, die die Quelle ausfindig machen sollen, um sie abzustellen. Über die Stimmen sagt er: »Es war erst eine einzelne Person, deren Signale ich empfing, dann mehrere. Wie ein Theaterstück. Ich empfange die ein bisschen wie in Trance – und ich rede mit denen, frage sie was. Die sagen ja selbst, dass sie mich als Sprachrohr benutzen wollen. Es passiert immer öfter, dass man was sagt und dann macht, und dass man das gar nicht ist, der das gesagt und getan hat, sondern eine übermittelte Rolle. Man ist in dem Moment Schauspieler.«

Müller vermutet, dass es sich um Schädelresonanzfrequenzen zwischen 250 und 500 Megahertz handelt. Damit könne man einen Menschen auch umbringen, entscheidend seien die Frequenzen um 400 Megahertz. Um Genaueres darüber zu erfahren, wandte sich Müller an die Bundesanstalt für Strahlenschutz und an die Netzagentur. Die schickte einen Mitarbeiter mit einem Emissionsmessgerät, das aber keine Funkstrahlen unter 800 Megahertz messen konnte. »An 400 Megahertz, da lassen die Dienste niemanden ran«, sagte er. Müller sieht sich als »Versuchskaninchen«. Er wohnt in Treptow unweit des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums (GTAZ).

Wird ihm von dort aus ins Gehirn gefunkt? Nach Abdruck des Interviews meldeten sich noch Jahre später unglückliche Menschen bei mir, die von Stimmen verfolgt wurden. Ein Psychiater war erbost, dass an keiner Stelle im Text von »psychischer Krankheit« die Rede war.

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  • Leserbrief von Karl Hermann aus Berlin (9. Oktober 2025 um 11:51 Uhr)
    »Bei den Hmong, einem Bergvolk aus Laos, das nach dem Vietnamkrieg in Kalifornien angesiedelt wurde, herrschte die Überzeugung, dass Alpträume töten können (…).« Wie kamen die Hmong in die USA und warum? Es begann in der Zeit zum Anfang der 1960er Jahre, als die USA die »Domino-Theorie« erfunden hatten. Im Falle von Laos war der US-Präsident schon auf einen Auftritt im Fernsehen programmiert, um zu erklären, dass sich in Laos der Kommunismus ausgebreitet habe. Wenn die USA hier nicht eingriffen, könne sich der Kommunismus auch in Thailand und schließlich in ganz Südostasien verbreiten. (Hier hatten die Verantwortlichen in den USA tatsächlich Halluzinationen.) USA-Präsident Kennedy wurde rechtzeitig von einem regionalkundigen Diplomaten seines Landes belehrt: Das Königreich Laos habe eine Bevölkerung von etwa 2,5 Millionen Einwohnern. Die meisten wohnten in den bergigen bewaldeten Gebieten außerhalb der Städte und jagten das Wild für ihre Ernährung mit Pfeil und Bogen und fischten in den Flüssen. Die Pathet Lao, (der Name übersetzt: Land der Laoten), die man in den USA als kommunistische bewaffnete Armee gelistet hatte, sei in Wahrheit eine nationale Bewegung im Nordosten des Königreichs Laos, unter Führung eines der drei Prinzen von König Sri Savang Vattana. (Ich füge hinzu, dass ein anderer Prinz im Süden des Landes unter dem Einfluss der US-Truppen im benachbarten Thailand stand.) Präsident Kennedy sagte seinen TV-Auftritt ab. Aber der Beschluss für den Krieg gegen Vietnam und natürlich auch gegen Laos war getroffen, sogar im bestätigten Budget. So wurde dieser Krieg gegen Laos als »geheimer Krieg« unter der Führung des Geheimdienstes CIA, gelenkt von Mitarbeitern der US-Botschaft in Vientiane, begonnen und durch die US-Airforce mit Aufklärungs- und Bombenflugzeugen letztlich mit einer Masse von über 2 Millionen Tonnen Bomben »geheim« geführt. Darüber gibt es inzwischen seit der Freigabe geheimer Akten zahlreiche Bücher. Das Bergvolk der Hmong wurde als Bündnispartner erwählt. Die USA versprachen sich von einer geheimen Armee aus Landesbürgern militärische Erfolge, die bis nach Nordvietnam hineinreichen sollten. Der Chef der Hmong-Bevölkerungsgruppe, Vang Pao, wurde bestochen, die jungen Männer der Hmong wurden militärisch ausgebildet und bewaffnet. Vang Pao wurde vom CIA zum General befördert. Bei Angriffen gegen die Pathet Lao wurden mehrere Generationen der Hmong verheizt. Die Lust der Hmong für die USA zu kämpfen und zu sterben, ließ nach. Den Führern der Hmong wurde versprochen, dass sie im Falle des Sieges das Land übernehmen würden. Im Falle einer nicht wahrscheinlichen Niederlage würden alle Hmong in die USA eingeladen. Die Niederlage brach 1974/75 über die US‑Kräfte und die lokalen Verbündeten herein, herbeigeführt durch die militärische Unterstützung seitens der befreundeten vietnamesischen Einheiten.
    Die amerikanischen geheimen Krieger begannen zu fliehen und konnten sich zunächst nicht mehr an ihr Versprechen gegenüber den Hmong erinnern. Der Hmong-General Vang Pao wusste, dass die patriotischen Kräfte von Laos ihm und vielen anderen ihre Handlungen für die USA, die Verbrechen gegen die laotische Bevölkerung nicht vergeben würden. Auch Familien, die den Lügen und Versprechungen der USA aufgesessen waren und mehrere Generationen ihrer männlichen Mitglieder bis zu den 12- und 14jährigen geopfert hatten, bedrohten den Verräter Vang Pao. So kam es, dass die USA schließlich eine große Gruppe der Hmong über Thailand in die USA überführten. Damit konnten sie auch zahlreiche Zeugen der Verbrechen im »geheimen« Krieg außer Landes bringen.
    Um die zwei Millionen Tonnen Bomben aller Kaliber und Arten, einschließlich der Streubomben, und um die Opfer unter der Bevölkerung durch herumliegende Bomben in den Wäldern und auf den Feldern kümmerten sich die USA über einige Jahrzehnte nicht, suchten aber unter Vermeidung jeglichen Aufsehens das Schicksal der abgeschossenen »geheimen« Piloten zu erfahren oder deren Leichen oder Gräber zu finden.
    Vang Pao und seine engsten Vertrauten unternahmen alles, um unter den jungen Leuten Kenntnisse über die wahren Gründe ihres Aufenthalts in den USA zu unterdrücken. Besucher aus Laos und Reisen einzelner Familienmitglieder nach Laos zu Verwandten nach der Gründung der Demokratischen Volksrepublik Laos 1975 weckten das Interesse vor allem der jungen Leute an der Entwicklung in ihrem Heimatland und den guten Bildungschancen der im Lande verbliebenen Hmong. In den USA blieben sie ewig Fremde und litten unter der Benachteiligung.
  • Leserbrief von B. Krumm (8. Oktober 2025 um 13:46 Uhr)
    Mein größter Albtraum als Kind war, dass die Mauer fällt. In der Prignitz der 80er Jahre ging ich brav in meine POS ins Nachbardorf, guckte abends die amerikanischen Vorabendserien im Westfernsehen und war fasziniert und gruselte mich zugleich. Absurder Reichtum und Armut, Drogen und Gewalt. Und alles gleichzeitig!
    Was war es beschaulich bei uns. Undenkbar, dass irgendwo ein Obdachloser herumgelegen hätte … Wir waren die ersten im All, hatten mit der UdSSR die meisten Medaillen bei Olympia. Und: ein Narrativ, den Kommunismus. Angeblich würden materielle Werte in Zukunft bei uns keine Rolle mehr spielen, sagte unsere Geschichtslehrerin. Niemand konnte sich das vorstellen, aber vielleicht übte gerade deshalb diese Behauptung auch einen sonderbaren Reiz aus. Bis dahin schlichen meine Brüder und ich auf Autobahnraststätten um japanische Motorräder herum und riefen uns gegenseitig zu, bis wieviel der Tacho ging. 240,260,280 … unfassbar. Zum Glück durften die bei uns nur hundert fahren. Als ich fünfzehn war wurde aus dem Albtraum wirklichkeit. Alle fuhren plötzlich begeistert mit dem alten Opel zu Aldi (der Konsum im Dorf schloss, glaub noch in der Nacht des Mauerfalls), nach Hamburg auf die Reeperbahn oder zum Arbeitsamt. Die komische Mischung aus Angst und Faszination war auch bei uns Realität. Ich machte in Berlin eine Ausbildung zum Kommunikationselektroniker, weil meine Eltern meinten, die Zukunft auf dem Dorf ist geschichte. Plötzlich lief ich täglich an Obdachlosen, Vietnamesen, die in S-Bahn-Unterführungen polnische Kippen verkauften und plötzlich wegrannten, weil sie ihre Zivilbullen erkannt hatten, und reißerischen Berliner-Kurier-Ständen vorbei. Tittengabi von der Blöd-Zeitung wurde einem natürlich auch in jeder überfüllten U-Bahn vor die Nase gehalten. Endlich Endlich Freiheit. Heute denk ich manchmal, vielleicht waren wir einfach zu früh. Jetzt sind alle so müde. Jetzt hat plötzlich niemand mehr was zu verbergen, lässt sich also überwachen. Das neueste Handy oder Auto muss man zwar irgendwie haben, aber die Faszination ist weg. Auf ne Art egal. Genau wie es meine Geschichtslehrerin prophezeit hat. Blöd nur, dass dabei alle so resigniert vor sich hinleben und völlig abgestumpft mit den Schultern zucken, wenn uns die Millionäre predigen, wir müssen mal wieder gegen die Russen in den Krieg. Phantasie ist jetzt die große Mangelware.
    Wessis kommen mir da oft bis heute wie KI-Prototypen vor. Sozialrealismus? Narrativ? Regierungspersonal, bei dem ich denke: Das ist doch so schlecht, das übertrifft meine Albträume aus Kindheitstagen um … aber vielleicht wache ich ja doch nochmal auf.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Martin M. aus Paris (6. Oktober 2025 um 21:45 Uhr)
    Was meint Helmut Höge mit »die Hmong seien nach dem Vietnamkrieg in Kalifornien angesiedelt worden«? Z.Z. stellen die Hmong mit über 500.000 Personen die größte ethnische Bevölkerung in Laos. Jährlich zelebrieren sie traditionelle Feste, (habe an einem in Laos teilgenommen). Die Hmong wurden aus Südchina vertrieben und haben sich mehrheitlich in Laos, aber auch in Vietnam und Thailand niedergelassen. Ein Teil der Hmong haben während des US-Krieges gegen Vietnam, Laos und Kambodscha – teilweise unter Erpressung – auf der Seite des Aggressors gekämpft und wurden dafür geächtet. Heute gibt es z.T. eine erneute Diskriminierung und Vertreibung, jedoch weil deren Land von der Regierung an private Investoren verkauft wird. Genauso wie in Kambodscha, wo Fischerdörfer »geräumt« wurden, um vietnamesischen Investoren den Bau von Luxushotels und Kasinos zu ermöglichen. (Ich war vor Ort)
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (7. Oktober 2025 um 13:52 Uhr)
      Das schreibt die Google-KI auf die Anfrage »anzahl hmong usa«: »Im Jahr 2023 gab es schätzungsweise etwa 360.000 Hmong in den USA.« Und etwas widersprüchlich auf die Anfrage »anteil hmong an laotischer bevölkerung«: »Die Hmong stellen etwa 9,2 % der Bevölkerung von Laos dar und bilden damit die größte Gruppe der sogenannten «Lao Sung» (Hochberg-Laoten). Es gibt ungefähr 320.000 Hmong in Laos, aber die genaue Bevölkerungszahl und damit der prozentuale Anteil können je nach Quelle leicht variieren.«

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