Für immer Volksgemeinschaft
Von Gerhard Hanloser
Der Privatgelehrte, Historiker und Publizist Götz Aly hat passend zu den nächsten geplanten Angriffen auf den Sozialstaat mit dem Buch »Wie konnte das geschehen?« erneut eine eigenwillige Interpretation des deutschen Faschismus vorgelegt. Demnach sei dieser, das ist nicht neu, ein wahrhaft sozialer »Volksstaat«, und die Deutschen hätten kollektiv und als wahr gewordene Volksgemeinschaft von der Nazipolitik profitiert.
Alle seriösen wissenschaftlichen Untersuchungen belegen das Gegenteil. So zeigte beispielsweise der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in seinem Buch »Ökonomie der Zerstörung« (2007), dass die Deutschen, besonders die Arbeiterschaft, nie die lange versprochenen »Volksprodukte« erhielten und die Löhne seit Beginn der Naziherrschaft eingefroren waren. Der Berliner Historiker Marcel Boldorf, Mitherausgeber des »Handbuch Wirtschaft im Nationalsozialismus« (2023), hält darin über die Sozialpolitik fest: »Das federführende Reichsarbeitsministerium setzte den Abbau von (sozialen) Leistungen fort, der unter den Präsidialregierungen in der Wirtschaftskrise am Ende der Republik begonnen hatte.« Und der Spezialist für Arbeitsbeziehungen unterm Hakenkreuz, Rüdiger Hachtmann, legte dar, dass die Möglichkeit der deutschen Arbeiter, die nominell verbliebenen individuellen Rechte wahrzunehmen, seit Beginn der Diktatur stetig schwanden. Michael Schneider arbeitete in dicken Monographien das in Teilen feindliche Verhältnis der Arbeiterschaft zum Faschismus heraus. Selbst eine soeben erschienene »Stimmungsgeschichte« des deutschen Zeithistorikers Peter Longerich über die Deutschen und das Naziregime zeigt skeptische, unwillige, auf jeden Fall nicht rundum begeisterte und auf Mord und Totschlag abonnierte, weil davon profitierende Volksgenossen.
Dennoch bleibt Aly bei seiner These, die er schon 2005 – interessanterweise zur Zeit der Hartz-IV-Angriffe auf den Sozialstaat – präsentierte: »Den Deutschen ging es im Zweiten Weltkrieg besser als je zuvor, sie sahen im nationalen Sozialismus die Lebensform der Zukunft – begründet auf Raub, Rassenkrieg und Mord.«
Ist damit alles falsch, was Aly sagt? Bertolt Brecht schrieb in »Und was bekam des Soldaten Weib?«, dieses habe dank Blitzkrieg und Ausplünderung der besetzten Gebiete »Kräglein aus Pelz« aus Oslo, manch belgische Spitzen und aus dem reichen Amsterdam den holländischen Hut erhalten. Doch endet sein Gedicht damit, dass aus dem »Russenland« der Witwenschleier kommt. Das Korruptionspotential des deutschen Faschismus blieb dem Marxisten Brecht also nicht verborgen. Auch im Heft zehn der kulturpolitischen Monatsschrift Aufbau aus dem Jahre 1946 wurde in einem Aufsatz über die »Stellung des Proletariats bei Karl Marx« festgehalten, dass in den »letzten zwölf Jahren« innerhalb des deutschen Proletariats zu viele Menschen den Verlockungen des sich sozialistisch gerierenden Monopolkapitals erlegen seien. Sie seien willig dem Anreiz gefolgt, als Aufseher oder Ausbeuter gegenüber den versklavten Arbeitern aus Ost und West zu fungieren. Antisemitisch verblendet wurde ihnen moralisch und menschlich das Rückgrat gebrochen, sie hätten die proletarische Solidarität aufgegeben und seien in den Zustand des »Lumpenproletariats« herabgesunken.
So weit, so richtig. Doch weder Brecht noch die Autoren des Aufbau hatten vergessen, wer die Verantwortlichen, die strukturellen Träger und wirklichen Profiteure des deutschen Faschismus waren. Über die Aly nicht mehr allzu viele Worte verschwenden will. Ein Renegatenphänomen. Als ehemaliger Linksradikaler der roten 70er Jahre der Bundesrepublik will er von Kapitalismuskritik nichts mehr wissen. Heute verteufelt er sie.
Ähnlich verhält es sich mit dem linken Antizionismus dieser Zeit, der ihm nur noch als Antisemitismus erscheinen kann, wie er in seinem Buch »Unser Kampf« (2008) über die Revolte von 1968 ausführte. Heute erkennt er in einem Spiegel-Interview bei allen »deutschen Mitbürgern« einen »Übertragungsantisemitismus«. Worin Aly diesen ausmacht? In der Behauptung, die Juden seien auch nicht besser als ihre Opas und Uropas. Interessant. Allerdings ist die Behauptung bislang nirgends aufgestellt worden. Die Behauptung ist eine Behauptung – Alys. Die Projektion einer Projektion, könnte man sagen.
Da ist es gut, dass man von Aly eine klare Aussage zum Gazakrieg erhält: Seit dem 7. Oktober habe man es mit einem »sehr robust geführten israelischen Verteidigungskrieg gegen die Aggressoren Hamas, Hisbollah, Huthi und Iran« zu tun. Eine steile Behauptung. Das Interview wurde am 22. August 2025 veröffentlicht. Eine Woche später, genau am 1. September 2025, erklärte die International Association of Genocide Scholars (IAGS), eine Vereinigung führender Forscher auf dem Gebiet des Völkermords, dass Israel mit seinem Vorgehen in Gaza die Kriterien für einen Genozid erfüllen würde. Auch diesmal wird sich Aly nicht irritieren lassen.
Götz Aly: Wie konnte das geschehen? Deutschland 1933 bis 1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2025, 768 Seiten, 34 Euro
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