Der Atomstaat zieht alle Register
Von Luc Śkaille, Bure
Auch in Frankreich erhob sich vor rund 40 Jahren der Widerstand gegen die Atomindustrie. Es fehlte nicht an Großmobilisierungen und an Militanz, ob bei Demonstrationen in Plogoff und Malville oder beim Bombenanschlag des »Kommandos Puig Antich – Ulrike Meinhof« auf das noch nicht fertiggestellte AKW im oberrheinischen Fessenheim am 3. Mai 1975. Die zumeist militärische Antwort aus Paris forderte 1977 mit dem Tod von Vital Michalon ein Menschenleben. 1985 starb der Journalist Fernando Pereira, als der Auslandsgeheimdienst das Flaggschiff von Greenpeace in die Luft sprengte, um seine Atombombentests im Pazifik zu verschleiern. Der Einsatz von Mitteln der »Terrorismusbekämpfung« erfolgt bis heute. Dies veranschaulichen die »Tarnac-Verfahren« wegen Zugsabotage in den Nullerjahren oder der Überfall auf die Gewerkschafterin Maureen Kearney im Jahr 2012.
Der Atomstaat zieht auch in Bure alle Register. Atomkraftgegner erleben seit Jahren Schikane und Gewalt. Während einer Waldbesetzung um 2017 kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Präfektur schuf eine Sonderkommission und stationierte eine von der Atommüllbehörde Andra finanzierte Einsatzhundertschaft in der Region um das »Untertagelabor«. Wenngleich Brandstiftung an Baustellen für zwei neue Kasernen erheblichen Schaden anrichtete, gleicht die Polizeipräsenz im Landkreis schon jetzt der in einer Großstadt. Und wenn nicht gerade Dutzende Polizeikontrollen den Bewohnern den Alltag zur Qual machen, nutzt man die Gegend als Experimentierfeld für neue Formen der Repression. Der Einsatz von IMSI-Catchern zur Standortlokalisierung von Mobiltelefonen diente etwa der Überwachung der Prozessbegleitung im 2017 eingeleiteten Verfahren gegen die »kriminelle Vereinigung« (association de malfaiteurs) von Bure. Der Indizienprozess endete im Juni 2025 mit Freisprüchen. 85.000 Nachrichten und Telefonate wurden abgefangen beziehungsweise gespeichert, Hausdurchsuchungen waren gang und gäbe, jahrelange Aufenthalts- und Kontaktverbote wurden ausgesprochen – alles außerhalb jeder Rechtsstaatlichkeit.
Zur »Demo der Zukunft« (Manif du Futur) am 20. September wurden 920 Bereitschaftspolizisten, Panzer und Überwachungsdrohnen eingesetzt. Neben zahllosen Tränengassalven auf den Feldern wurden mindestens 30 Tränengasgranaten vom Typ GM2L eingesetzt, die auch auf Kopfhöhe der Demonstranten explodierten. Die Abschussvorrichtungen der »Centaure«-Spezialpanzer haben eine bisher ungekannte Reichweite. Ein Drama blieb hier wegen der Besonnenheit der Demonstranten aus. Stundenlang wurde die zurückweichende Menge beschossen, während der Einsatzleiter forderte: »Schießt weiter auf den Block, auch wenn sie in die richtige Richtung gehen«.
Doch nicht nur juristisch und militärisch, auch nachrichtendienstlich scheint der Schutz des weltgrößten Atommüllprojekts oberste Priorität zu genießen, wovon der Einsatz des jüngst enttarnten Spitzels »Momo« zeugt. In Bure wird deutlich, dass der Staat alle Mittel gegen jene richtet, die sich dem »nuklearen Fortschritt« widersetzen. Dass er dafür auch über Leichen gehen würde, zeigt ein Blick in die Geschichte.
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