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Aus: Ausgabe vom 06.10.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Antiatombewegung

Lagerkoller in Lothringen

In Bure will der französische Staat eine Atommülldeponie errichten. Dagegen erhebt sich Protest
Von Luc Śkaille, Bure
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»Manif du Futur«. Der Kampf gegen das Endlager ist einer für die Zukunft. Demonstration in Mandres en Barrois, 20.9.2025

Laute Explosionen zu Sambatrommeln auf den steinigen Ackerflächen am Rande des Dörfchens Mandres-en-Barrois in Lothringen. Hubschrauberknattern und Tränengaswolken, bunte Fahnen und schwarze Kapuzen. Bei strahlendem Sonnenschein startete hier am 20. September mit gut 1.500 Beteiligten die seit Jahren größte Demonstration gegen das Centre industriel de stockage géologique (Cigéo), das geplante atomare Endlager von Bure. Während es reichlich Platz für Karneval, Wandmalereien und einen familiären Umzug bot, gerieten knapp 300 Autonome in der »Roten Zone« des auserkorenen Standorts stundenlang mit der Gendarmerie aneinander. Der vielfältige Protest beleuchtet Widersprüche der in Frankreich als »heilige Kuh« betrachteten Atomwirtschaft und beansprucht, »das Territorium gegen ein unnützes Großprojekt zu verteidigen«, wie ein Redner betonte. »Mit Bure will der Atomstaat seine verlogene Geschichte zu Ende erzählen. Doch wir tragen die Verantwortung einer lebenswerten Zukunft für die kommenden Generationen.«

Um bis zur Gemeinde Bure im Süden des Départements Meuse vorzudringen, muss eine Art Niemandsland durchquert werden. Eine hügelige Landschaft aus Ton und Kalk zwischen Strasbourg und Paris, abgemähte Stoppelfelder, halb leerstehende Dörfer, kaum öffentliche Einrichtungen, sieben Einwohner pro Quadratkilometer. »Mit dem Versprechen des Forschungslabors und von wirtschaftlichem Wachstums kamen sie«, sagt die Dorfbewohnerin Danielle L. »26 Jahre später erzwingen sie die größte Müllkippe der Geschichte. Wir haben nichts davon.«

Teilerfolge und dreckige Deals

Der Protest ist an diesem Wochenende nicht zu überhören. Organisationen wie Greenpeace, ATTAC oder die Linkspartei LFI hatten mobilisiert. Initiiert wurde die »Manif du Futur« (Zukunftsdemo) jedoch von lokalen autonomen Gruppen und den tradierten Bürgerinitiativen, die das Projekt seit 30 Jahren kritisch begleiten.

Régine Millarakis von »Bure Stop«, Mitte Siebzig, ist ein Urgestein des Protests. Im Gespräch mit jW erklärt sie, dass sich der Widerstand einst frankreichweit koordiniert hatte. Die Bewegung sei in einer Phase der Reorganisierung, nun wachse der Widerstand in Bure seit Jahren, habe sich verankert. Regional seien zahlreiche Erfolge zu verzeichnen: »Nuklearanlagen in Saint Dizier, in Gudmont und in Void-Vacon wurden verhindert«. Der anhaltende Widerstand habe »Cigéo um mindestens 10 Jahre zurückgeworfen«. Neben juristischen (Teil-)Erfolgen, Öffentlichkeitsarbeit und Demonstrationen ist in Lothringen auch direkte Aktion ein ernsthafter Faktor geworden. Der Presse ist zu entnehmen, dass Kleingruppen immer wieder Messstationen, beteiligte Unternehmen und Verantwortliche des »atomindustriellen Komplexes« zerstören. Zu Jahresbeginn ging Berichten zufolge eine AK-47 Kugel »auf unkonventionellem Weg« – per Post – bei Andra-Chefingenieur Patrice Torres ein.

Allen Formen des Widerstands zum Trotz hat sich der Atomstaat dennoch auf Bure als zu verwirklichende Großdeponie festgelegt und die Verfahren zur Umsetzung werden auf allen Ebenen beschleunigt. Millarakis sagt, seit 2000 seien »wahlweise die Naivität oder die Kumpanei der Lokalpolitiker« ausgenutzt worden, denen die Umweltschützer schwere Interessenskonflikte vorwerfen.

Tatsächlich sind die Entwicklungen für einen Teil der Abgeordneten äußerst lukrativ. So wurde der Standort gezielt auf zwei Départements verteilt, um die Anzahl der geförderten Kommunen zu steigern. Gondrecourts Bürgermeister D. Renaudeau profitiert aktuell von seinen Netzwerken, Teile seiner Ländereien werden als Steinbruch für die Errichtung des Endlagers genutzt. Landwirt Matthieu berichtet: »Dreckige Deals der Unterhändler führen zu Zerwürfnissen in den Gemeinden.« Die vor zwei Jahren begonnenen Enteignungsverfahren seien »fast alle ›gütlich‹ abgewickelt worden«.

Der Kampf um den Bahnhof

Doch eben nicht alle. Der Standort »La Gare«, ein ehemaliges Bahnhofsareal auf der geplanten Castor-Trasse, vier Kilometer vom geplanten Verladebahnhof des zukünftigen Endlagers entfernt, ist noch immer in der Hand der Projektgegner. Hier wurde über die Jahre ein Hüttendorf errichtet. Wegen der Enteignungsverfahren ist das acht Hektar große Gelände ab dem 11. Oktober von Räumung bedroht. Besetzerin Claudia sagt, man bereite sich »intensiv auf eine Verteidigung« vor. »Der absehbare Verlust des Bahnhofs wird die Ausgangsbedingungen beeinträchtigen, doch unser Widerstand wird nicht an diesem Punkt stehen bleiben. Das haben wir am 20. September auch gezeigt«.

Die Verfasser des Bündnisaufrufs der »Demo der Zukunft« positionieren sich klar für die Verteidigung von »La Gare«. Ein Punkt, in dem Autonome und Bürgerinitiativen offenbar übereinstimmen. Der autonome Demozug »Gare à la Revanche«, der am 20. September mit viel Feuerwerk in die rote Zone vordrang, wurde von den meisten Demonstranten wohlwollend oder zumindest verständnisvoll begleitet. Für Millarakis wird der Kampf um den alten Bahnhof von Luméville ein »absehbarer Hotspot«, der mit den mittlerweile autorisierten »vorbereitenden Bauarbeiten« des Endlagers einhergeht. Für sie hat die jüngste, »sehr lebendige Demonstration gezeigt«, dass die Widerstände in ihrer Unterschiedlichkeit auch »zusammenfließen können«, um sich »den verrückten Nukleokraten entgegenzustellen«. Das Cigéo leide ohnehin unter »erschwerten finanziellen Bedingungen«. Die Aufgabe bestehe nun darin, dem Projekt »den Gnadenstoß zu versetzen«.

Hintergrund: »Das sicherste Loch«

Mit dem »Industriezentrum für geologische Tiefenlagerung« Cigéo, will Frankreich die Lösung für rund 85.000 Kubikmeter hoch radioaktive Abfälle aus seinem Atomprogramm schaffen. Neuesten Schätzungen der Endlageragentur Andra zufolge wird das Projekt rund 37 Milliarden Euro kosten. Rechnungshof und Umweltschützer sind da pessimistischer. Zum Vergleich: die deutsche Bundesregierung rechnet für die Endlagerung atomarer Abfälle hierzulande mit 170 Milliarden Euro – bei bloß einem Viertel der AKW.

In Bure plant die Agentur, in 500 Metern Tiefe über 300 Kilometer an Stollen zu graben, sie 100 Jahre lang zu befüllen, die Schächte durch eine voll robotisierte Konzeption im Bau zu bestücken und alles anschließend zu verschließen. Bei der aktuell vorhandenen Müllmenge müssten über ein Jahrhundert lang zwei bis drei Castortransporte pro Woche in Bure eintreffen. Allerdings wirft die von Präsident Macron geforderte »Atomrenaissance« neue Fragen der Müllverwaltung auf, die in diese Rechnung noch nicht eingepreist sind.

Das Cigéo wurde ab 1999 im wirtschaftlich gebeutelten Lothringen geplant und als »Wissenschaftsstandort« angepriesen. Die seither erfolgte Ausschüttung von rund einer Milliarde Euro an die betroffenen Gemeinden als »Begleitzahlungen« wirkten Wunder, was die Akzeptanz des Endlagers angeht. Spätestens seit dessen Anerkennung als Angelegenheit von »öffentlichem Interesse« 2021 wurde klar, dass die zunächst als »Forschungslabor« bezeichnete unterirdische Lagerstätte als endgültiger Standort für das Jahrtausendproblem vorgesehen ist.

Für den Wissenschaftler Bernhard Laponche gehen die Überlegungen einer geologischen Tiefenendlagerung in die falsche Richtung. »Es ist das gleiche, wie den Müll ins Meer zu werfen. Wasser ist überall. Und wo es nicht ist, ist eine solch pharaonische Baustelle nicht umsetzbar«, sagte der Atomingenieur gegenüber jW. »Das ist ein internationaler Wettbewerb der Atomstaaten um das ›sicherste Loch‹.« (ls)

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