Gegründet 1947 Donnerstag, 3. Juli 2025, Nr. 151
Die junge Welt wird von 3019 GenossInnen herausgegeben
Aus: Ausgabe vom 03.07.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Atommüll

20.000 Fässer unter dem Meer

Vor den Küsten Frankreichs und Großbritanniens lagert Atommüll in rauen Mengen. Jetzt wird er geortet und untersucht
Von Wolfgang Pomrehn
3.jpg
Nicht mit der Nautilus, sondern mit dem Tauchroboter Ulyx auf der Jagd nach den Atommüllfässern im Atlantik

Bis in die frühen 1990er Jahre haben viele Länder ihren Atommüll in den Ozeanen versenkt. Unter anderem haben westeuropäischen Staaten an diversen Stellen im Nordatlantik vor den Küsten Frankreichs und Großbritanniens über 200.000 Fässer ins Meer gekippt. Eines dieser wilden Atommüllager liegt etwas mehr als 1.200 Kilometer westlich von Bordeaux. Immerhin wurde seinerzeit zumindest über den Umfang dieser recht sorglosen Müllbeseitigung Buch geführt und international berichtet, so dass die Internationale Atomenergieagentur IAEA 1999 eine Liste der Deponien mit ihren geographischen Koordinaten veröffentlichen konnte.

Müll kartieren

Dieser Tage wird nun die unterseeische Müllkippe vor Bordeaux von einem Projekt unter der Leitung des französischen Centre national de recherche scientifique (CNRS) in Augenschein genommen. Am 15. Juni machte sich von Brest das Forschungsschiff »L’Atalante« auf den Weg, um nachzuschauen, ob die Fässer noch in dem Gebiet liegen, in dem sie einst entsorgt wurden. Über 1.000 von ihnen konnten inzwischen in Tiefen zwischen 3.000 und 5.000 Metern kartiert werden, teilte das CNRS letzte Woche mit. Noch bis zum 11. Juli soll die Suche fortgesetzt werden. Für die Ortung wird unter anderem ein hochauflösendes Sonar eingesetzt. Auch ein automatisches Mini-U-boot hilft, indem es Fotos macht und Sediment- und andere Proben nimmt, die an Bord einer ersten Untersuchung unterzogen werden. Außerdem werden Strömungsmesser und Fallen für Fische und Schalentiere aufgestellt. Sie sollen einer späteren Expedition dienen, die auch die unmittelbare Umgebung der Fässer untersuchen wird. So hofft man künftig zumindest einen Überblick über die Auswirkungen der radioaktiven Abfallentsorgung zu bekommen.

Der Atommüll ist in den Stahlfässern zum Teil mit Asphalt und zum Teil mit Beton gebunden, doch es ist unklar, wie gut das Strahlenmaterial damit gesichert ist. Nach Angaben des Norddeutschen Rundfunks geht der Leiter des Projekts, der Kernphysiker Patrick Chardon, davon aus, dass schon seit längerem Radioaktivität aus den Behältern entweichen könnte. Nach den Unterlagen der IAEA kommen jeweils mehrere zehntausend Fässer in der untersuchten Region aus den Niederlanden und Belgien. Aus der Schweiz stammen 7.470 Fässer und eine unbestimmte Anzahl aus Großbritannien. Das Vereinigte Königreich ist nach Angaben der in Wien ansässigen Agentur für etwas mehr als drei Viertel allen Atommülls verantwortlich, der in den Nordatlantik gekippt wurde. Deutschland, Italien, Schweden und Frankreich hingegen nur für vergleichsweise geringe Mengen.

Die USA und die Sowjetunion haben ihren Atommüll vor allem im Pazifik entsorgt, die UdSSR zudem einen Teil in die deutlich flacheren Gewässer der Barentssee östlich von Skandinavien gekippt.

Seit 1993 ist diese Art des Umgangs mit dem Strahlenmüll aufgrund internationaler Vereinbarungen wie der Londoner Konvention über die Verhütung von Meeresverschmutzung verboten. Die meisten Staaten mit Atomkraftwerken sind ihr beigetreten, die Schweiz, die Tschechische Republik und Bulgarien allerdings nicht.

Lange Halbwertzeit

Bei dem versenkten Müll handelt es sich um Rückstände aus der Medizin und der Forschung, aber auch um viel hochradioaktives abgebranntes Brennmaterial aus den Atomkraftwerken. Die meiste im Atommüll enthaltene Radioaktivität wird nach rund 400 Jahren abgeklungen sein. Das aus abgebrannten Brennstäben stammende Plutonium, das ebenfalls Bestandteil des Inhalts sein könnte, hat jedoch je nach Isotop Halbwertzeiten von 6.550 und 24.000 Jahren, müsste also für viele hunderttausend Jahre sicher verwahrt werden.

Aus den westdeutschen Atomkraftwerken wurden die abgebrannten Brennstäbe lange Zeit in die sogenannte Wiederaufbereitungsanlage ins französische La Hague gebracht. Dort wird aus den Rückständen Plutonium extrahiert, das sowohl für Atomwaffen als auch für neue Brennstäbe eingesetzt werden kann. Den immer noch hochradioaktiven Rest der Abfälle hat Deutschland zurückgenommen und im oberirdischen Zwischenlager im niedersächsischen Gorleben abgestellt, das aus nicht viel mehr als einem Zaun und einer riesigen Leichtbauhalle besteht. Die Transporte dorthin und das an dieser Stelle geplante Endlager waren lange Zeit hochumstritten. Immer wieder kam es in den 1980er und 1990er Jahren in der ländlichen Region zu Demonstrationen mit vielen tausend Teilnehmern und erheblicher Polizeigewalt.

Endlagersuche

Für das Endlager wird inzwischen schon seit geraumer Zeit an anderer Stelle ein Standort gesucht. Nach Auskunft der Bundesgesellschaft für Endlagerung wird sich das noch mindestens bis 2046 hinziehen. Bis dahin werden die alten Brennstäbe in den überall im Land betriebenen 16 Zwischenlagern aufbewahrt. Zwölf an alten AKW-Standorten, drei an zentralen Standorten und eines beim alten Forschungsreaktor in Jülich im Rheinland. Einige von ihnen haben in den vergangenen Jahren Schlagzeilen gemacht, weil die strahlenden Abfälle dort kaum gesichert in Behältern lagern, deren Zustand teils bereits recht fraglich ist.

In Frankreich ist man bereits etwas weiter. Dort wurde bei Bure im westlichen Lothringen bereits ein Standort für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle ausgesucht. Allerdings stößt dessen Bau derzeit ähnlich wie einst Gorleben auf erheblichen Widerstand in der örtlichen Bevölkerung und bei Umweltinitiativen im ganzen Land. Wie schon in den Jahren zuvor ist dort für den September wieder ein internationales Widerstandscamp geplant.

Kommentar: Folgekosten sozialisiert

Dass die alten Atommüllfässer am Boden der Tiefsee liegen, ist für Fachleute keine Überraschung, erinnert uns aber daran, wie unglaublich fahrlässig mit unseren Meeren umgegangen wurde und wird. Mit großem Aufwand wird man nun in den kommenden Jahrzehnten den hochradioaktiven Müll beobachten und eventuell sogar wieder bergen müssen. Ganz so wie es seit Jahren in bezug auf die vermutlich mehr als eine Million Tonnen alter Weltkriegsmunition diskutiert wird, die am Boden von Nord- und Ostsee vor sich hin rostet und begonnen hat, ihren äußerst giftigen Inhalt ans Wasser abzugeben. An der Munition kann man unter anderem sehen, wie teuer schon die Beobachtung und Bergung in sehr flachen Gewässern sein wird. Doch Folgekosten zu verdrängen und zu sozialisieren ist ja ohnehin eine Konstante der Atomwirtschaft im Speziellen und kapitalistischer Industriepolitik im Allgemeinen. Während sich jahrzehntelang mit den Atomkraftwerken viel Geld verdienen ließ – in Frankreich ist es derzeit mit den stör- und hitzeanfälligen Altmeilern schwerer – muss die Allgemeinheit die Sorge um den hochradioaktiven Atommüll tragen. Die paar Dutzend Milliarden Euro, mit denen sich die hiesigen Konzerne vor ein paar Jahren aus der Verantwortung freikaufen konnten, werden hinten und vorne nicht für Bau und Betrieb eines Endlagers reichen. Zumal noch immer vollkommen offen ist, welche geologische Formation den gefährlichen Müll tatsächlich für 200.000 Jahre sicher aufnehmen könnte. Nur eines ist ziemlich klar: Ein Salzstock, wie einst in Gorleben geplant, bietet keine Gewähr. Das haben die Erfahrungen in Morsleben (Sachsen-Anhalt) und Asse (Niedersachsen) inzwischen gezeigt, wo der Müll geborgen werden musste, nachdem Wasser eingebrochen war. Ganz so, wie Wissenschaftler es den Verantwortlichen in Ost und West vorhergesagt hatten. Doch wenn Prestige, Macht und Profit locken, wird selten auf Kritiker gehört. (wop)

links & bündig gegen rechte Bünde

Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.

Ähnliche:

  • Bei Nacht und Nebel erbaut: Mauer gegen Castortransporte und zur...
    15.11.2024

    Unendlicher Atommüll

    Dem letzten Castor-Transport von Frankreich nach Deutschland schlägt Widerstand entgegen
  • Bringen die strahlende Ladung an ihr Ziel: Castortransport zum Z...
    09.11.2024

    Ein Castor-Zug wird kommen

    Baden-Württemberg: Gericht lehnt Eilanträge gegen Lagerung von Atommüll aus Frankreich ab

Regio:

Mehr aus: Schwerpunkt