München 2.0
Von Reinhard Lauterbach
Ist Wladimir Putin des Krieges in der Ukraine müde? So offen hat er es bei seinem Auftritt auf der Jahrestagung des offiziösen Waldai-Klubs in Sotschi nicht gesagt, aber seine Wortwahl war aufschlussreich. Nichts mehr von »militärischer Spezialoperation« war zu hören, sondern diesmal sprach Putin von der »ukrainischen Tragödie«. Man weiß natürlich nicht, ob er diesen Vergleich im landläufig-moralischen Sinne meinte oder in der strengeren Fassung der klassischen Ästhetik: der Tragödie als eines Konflikts zweier gleichrangiger Interessen oder Prinzipien, der zwangsläufig zum Unglück führt.
Einiges spricht dafür, dass Putin nicht einfach alles furchtbar schade fand, wie der gesunde Menschenverstand, wenn er von »Tragödie« spricht. Denn den Hauptteil seiner Rede widmete Putin den ganz großen Themen der Weltordnung, und hier klang sie wie eine Wiederholung der Thesen, die er Anfang 2007 auf der Münchener »Sicherheitskonferenz« formuliert hatte: Vor allem die von der Überlebtheit der durch die Dominanz der USA und ihrer europäischen Satelliten geprägten unilateralen Weltordnung, die dem Rest der Welt »seinen Platz in der weltweiten Hierarchie zuweisen« wollte.
18 Jahre später – davon dreieinhalb Jahre mit Krieg – wirkt die Wiederholung trotzdem anders, erfahrungsgesättigter. Ihr habt uns nicht zugehört, aber welches Problem habt ihr denn gelöst? Putin berief sich auf die in der Tat erstaunliche Resilienz Russlands gegen die westlichen Sanktionen, um seinen denkbaren Adressaten im Westen deutlich zu machen: Klein kriegt ihr uns sowieso nicht, dafür erhöht ihr mit der weiteren Eskalation das Risiko des ganz großen Krieges. Also überlegt euch, ob ihr das wirklich riskieren oder vielleicht doch mit uns wieder ins Gespräch kommen wollt. Unter Gleichen.
Noch etwas wurde aus den Zwischentönen seiner Rede deutlich: während er die Hoffnung auf die europäischen »Nachbarn« offenkundig aufgegeben hat, machte er der Trump-Administration offen Avancen. Seine Wunschvorstellung scheint zu sein, sich mit den USA auf einen »großen Deal« zu einigen, dem sich die machtlosen Europäer letztlich unterwerfen müssten. Ein Szenario, das allerdings seiner eigenen Vorstellung von entstehender Multipolarität einigermaßen widerspricht.
So recht Putin mit der Feststellung hat, dass die starke Tendenz zur Multipolarität eine direkte Folge von Jahrzehnten westlichen, als »regelbasierte Weltordnung« verkleideten Dominanzanspruchs ist – das ist guter dialektischer Materialismus – , so naiv wirken seine kritischen Worte an die Adresse der einstigen Wunschpartner Russlands: Sie seien »geistig nicht vorbereitet« auf die globalen Veränderungen gewesen. Nein. Der Imperialismus ist nicht zu blöd, die Prozesse zu begreifen. Er versucht nur, sie unter dem Deckel zu halten, weil sie seinen Interessen widersprechen.
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