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Aus: Ausgabe vom 01.10.2025, Seite 11 / Feuilleton
Musikmedien

Der Kampf wird härter

Die 500. Ausgabe des sehr lesenswerten britischen Musikmagazins The Wire ist draußen
Von Christian Meyer
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Unerhört Neues und Noise: The Wire

Etliche Musikzeitschriften haben in den vergangenen Jahren die Segel gestrichen, darunter Spex, Intro, De:Bug und der britische NME. Das Musikpresseelend zeigte sich schon länger. Die Verrisse wurden seltener, man wollte es sich schließlich nicht mit den großen Anzeigekunden aus der Musikindustrie verscherzen. Die Werbeeinnahmen brachen trotzdem ein, und irgendwann war manches Printerzeugnis auch mit Advertorials nicht mehr zu finanzieren. »Die wenigen verbliebenen, regelmäßig erscheinenden Printmagazine – Musikexpress und Rolling Stone – feiern unter der Fuchtel mächtiger Verlage (Springer) den Mainstream und hoffen in der Onlinepräsenz darauf, dass KI-generierte Texte verfangen«, schrieb Thaddeus Herrmann jüngst im Freitag.

Was entgegen aller Wahrscheinlichkeiten immer noch erscheint, ist The Wire. In Nachrufen auf Spex (2018 als Printmagazin eingestellt) verwiesen sowohl Berthold Seliger als auch Diedrich Diederichsen auf die Zeitschrift aus London. Sie gilt als quasi alternativlos.

Im Oktober ist die 500. Ausgabe des 1982, seinerzeit noch auf Jazz spezialisierten Magazins erschienen. Dort illustriert Herausgeberin Emily Bick im Editorial die Geschichte und Bandbreite des Magazins anhand der Strahlkraft von Gratful Deads Song »Dark Star«.

The Wire macht auf Phänomene aufmerksam, die in den vorstrukturierten Informationsmassen an den allermeisten von uns unbemerkt vorbeiexistieren würden. Als genreübergreifende Musikzeitschrift, wie es sie kaum noch gibt, bedient sie keine Nische, sondern nahezu alle Nischen. Die in der Kategorie »Primer« ausführlich abgehandelten Künstlerinnen, Künstler oder Genres vermitteln einen Eindruck: Charles Mingus, Peter Brötzmann, Karlheinz Stockhausen, Lydia Lunch, The Fall, J Dilla; Avant Metal, Dubstep, Miami Bass, Music of Islam, Motorik Rock, Mutant Disco, Field Recordings, Autechre Remixes oder The Weird Old America. 2021 widmete sich ein Heft dem Thema Radio und listete unter anderem »100 essential online stations« auf. Für mich war es Anlass, mir ein Onlineradio zuzulegen – neben einem The-Wire-Abo eine absolut empfehlenswerte Investition für alle Musikliebhaber.

Wie alle Zeitschriften regt auch The Wire zu Konsum an – indem sie Interesse weckt. Es gibt keine nennenswerten Anzeigen von Majors und Multis, statt dessen Kleinanzeigen von Plattenläden, Versandhändlern, Radiosendern und obskuren Labels. Wer von Spotify-Playlisten gelangweilt ist, findet hier immer wieder unerhört Neues. Und Noise.

In der Rubrik »Global Ear«, die allmonatlich die Szene einer Region porträtiert, wurden jüngst DJ Balli und sein Plattenladen Sonic Belligeranza in Bologna vorgestellt. DJ Balli beschallte vergangenes Jahr die Restaurants seiner gentrifizierten Nachbarschaft zur Mittagszeit lautstark mit lärmigen Industrial Sounds, was die Anwohner dazu brachte, ihre Fenster mit Pappe zu dämmen. In seine eigenen Ladenfenster hängte er den Slogan »Noise ist die Musik der Arbeiterklasse«.

Die auch geographisch globale Ausrichtung führt die Leser regelmäßig weg von Europa und Nordamerika. Die Zeitschrift bietet ein Kontrastprogramm zu der oft langweiligen und stets sicheren Musik, die etwa Deutschlandradio Kultur spielt.

Der radikale Egalitarismus, bei dem etablierte zeitgenössische Komponistinnen und Komponisten neben Black-Metal-Bands mit einer einzigen Bandcamp-Veröffentlichung stehen, hat nicht nur Fans. The Wire wurde vorgeworfen, gerade Veröffentlichungen im Bereich Noise erratisch auszuwählen und ihnen unkritisch gegenüberzutreten. Tatsächlich sind die Besprechungen oft sehr deskriptiv und laden tendenziell dazu ein, sich ein eigenes Urteil zu bilden.

So eine Zeitschrift kann nur von Linken gemacht werden, und in den Texten schimmert entsprechend oft Sympathie für Selbstverwaltung und soziale Kämpfe durch. Hauptsächlich geht es aber immer um Sound, Ästhetik und die Praxis des Musikmachens, erst in zweiter oder dritter Linie um Politik oder einen popkulturellen Zeichenkosmos.

Zu den externen Autoren der Zeitschrift zählen Autorenberühmtheiten wie Simon Reynolds, David Toop und ehedem Mark Fisher. Auch zahlreiche Musikerinnen und Musiker wie Kim Gordon (Sonic Youth) oder Irmin Schmidt (Can) schrieben für The Wire. Um die Zeitschrift herum existiert ein kleines Ökosystem, mit einer wöchentlichen Radiosendung auf Resonance FM (online), dem irgendwie assoziierten Café Oto in London und einer Reihe Buchveröffentlichungen. Daneben ist The Wire bei einer Reihe Festivals involviert, unter anderem dem CTM in Berlin. Im Jahr 2000 hat die damalige Belegschaft die Zeitschrift gekauft – ^mehr Unabhängigkeit geht nicht.

Unabhängige Presse hat es schwer, das gilt erst recht für Musikjournalismus, der sich nicht darauf beschränkt, die Cashcows von Evergreens (eher Evergrays) zu melken oder den Taylor Swifts dieser Welt von den Lippen zu lesen. Im Mai veröffentlichte die Zeitschrift einen Hilferuf: Print- und Vertriebskosten stiegen, die Musikindustrie mache tiefgreifende Veränderungen durch. Der Kampf werde jeden Monat härter. Der Ruf blieb anscheinend nicht ungehört, zumindest bedankte man sich bei den Unterstützerinnen für Spenden und Support. Ein Spendenlink auf der Homepage ist nach wie vor aktiv – die beschriebenen Krisen sind keinesfalls überstanden.

https://www.thewire.co.uk/issues/y=2025

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