Rotlicht: Pöbel
Von Mesut Bayraktar
Die Bezeichnung Pöbel geht zurück auf das französische »Peuple« und auf das lateinische »Populus«: Volk. Erst Martin Luther, der dem Volk zunächst wohlwollend aufs Maul schaute, bis es ihm stank, erfand in seiner Polemik »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern« (1525) erstmals den Kampfbegriff »Pöbel«. Aus »Volk« wurde »gemeines Volk«, ein niederträchtiges. Luthers Erzrivale Thomas Müntzer bezog sich auf die aufrührerischen Bauern und ihre Forderungen, die bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft und der Gewährung von Grundrechten reichten. Dagegen schlug sich Luther auf die Seite der Fürsten: »Der Esel will Schläge haben, und der Pöbel will mit Gewalt regiert sein.« Seit der Reformation wird mit Pöbel der Teil eines Volkes ins Visier der Klassengewalt genommen, der die sozialen Sperrzonen verlässt, die die herrschende Klasse ihm zugewiesen hat. Von Anfang an hatte der Pöbel, der mit dem Frühkapitalismus entstand, also einen schlechten Stand.
Den neuzeitlichen Intellektuellen blieben die ärmsten Schichten des Volkes fortan ein Stein im Schuh. Sie widersetzten sich den Theorien der Denker oder fanden erst gar keinen Platz darin. Entweder wurden sie in einen rohen Naturzustand außerhalb der Zivilisation gebannt, um die Staatsmacht vor ihnen zu warnen (Hobbes), oder man fasste sie zu einer unsortierten Menge von besitzlosen Menschen zusammen, die sich bloß von Irrationalität und Leidenschaften leiten ließen, vulgär und asozial – der Vulgus (Spinoza). Ob in der »Italienischen Reise« von Goethe, in den »Stimmen der Völker in Liedern« von Herder, im »Deutschen Wörterbuch« der Gebrüder Grimm oder in den »Grundlagen des Naturrechts« von Fichte: Ist von den ärmsten Schichten die Rede, ist das abwertende Gerede vom Pöbel als Ausdruck des Ressentiments der Gutbetuchten nicht weit.
Erst Hegel machte aus dem Schimpfwort einen dialektischen Begriff zur Analyse der Moderne. Für Hegel entsteht die Armut aus dem inneren Prinzip kapitalistischer Marktwirtschaft. In »ungehinderter Wirksamkeit« vermehrt die bürgerliche Gesellschaft auf der einen Seite die Anhäufung des Reichtums, während sie auf der anderen Seite einen Teil der an die »Arbeit gebundenen Klasse« in die Armut treibt. Erst allerdings, wenn die Armen sich um ihre Freiheit betrogen sehen und die Verhältnisse nicht mehr als gerecht empfinden, erst dieses Bewusstsein erzeugt den Pöbel bei den Armen. Mehr noch, Hegel unterscheidet zwischen armem und reichem Pöbel. Letzterer entsteht dadurch, dass ein Teil der besitzenden Klasse so reich ist, dass er sich nicht mehr an Recht und Gesetz gebunden fühlt und fortan einfach selbst die Gesetze bestimmt.
Interessant ist, dass Hegel den armen Pöbel als Gegenbegriff zur Polizei entwickelt. Denn in diesem Punkt ist Hegel unversöhnlich: Armut und Reichtum sind das Grundproblem der bürgerlichen Gesellschaft. Gegen den Pöbel kommt selbst der Meisterdialektiker nicht an.
Für seinen besten Schüler, den nicht selten die Polizei schikanierte, war das ein Stichwort für den Kapitalismus, der seine eigenen Totengräber produziert. In der Kapitalanalyse durchleuchtet Marx die Arbeiterklasse in ihren Schichten und ihrer politischen Handlungsmacht. Welches Schicksal dabei der Pöbel hat – industrielle Reservearmee, Lumpenproletariat oder Proletariat –, ist nicht ausgemacht. Dass aber der Pöbel ein Durchgangsmoment zum Klassenbewusstsein ist, ist offenbar. Die Armen verfolgt der Schatten des Pöbels, den Pöbel verfolgt der Schatten des Proletariats.
Gerade deshalb sind heute die Springer-Presse, Friedrich Merz und alle anderen Bürgergeldkürzer so besessen vom Pöbel. Er ist eine Chiffre für den Armenhass der Reichen. Also jenes reichen Pöbels à la Musk und Bezos, der die Arme hochgekrempelt hat und sich mehr und mehr seine eigenen Gesetze macht.
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