»Ich kann nicht einfach hier sitzen und nichts machen«
Interview: Dieter Reinisch, WienEs kommt selten vor, dass Kinofilme über Diplomatinnen gedreht werden. Im Laufe des Jahres hatte die Dokumentation über Sie in verschiedenen Ländern Premiere. Am 13. August war es in Wien soweit. Wieso trägt der Film den Titel »Die letzte Botschafterin«?
Lassen Sie mir kurz den Hintergrund der Dokumentation erklären: Die Filmemacherin Natalie Halla kam im Dezember 2021 auf mich zu, also kurz nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul. Sie wollte eine Dokumentation drehen, doch ich habe das abgelehnt. Die Ereignisse waren noch zu frisch. Es war eine sehr schwierige Phase in meinem Leben und es war mir damals einfach zu viel. Sie hat mich dann aber doch überzeugt und der erste Arbeitstitel war »Tagebücher einer Botschafterin«. Mitten während der Arbeit an dem ganzen Projekt gab es dann verschiedene Ideen. Ursprünglich war geplant, dass ich selbst aus Afghanistan und über die Situation berichte. Aber ich habe immer wieder dasselbe gemacht und gesagt. So wurde dann der Charakter der Dokumentation geändert. Es ging schließlich mehr um mich und meine Arbeit.
Im Laufe des Projekts habe ich ein Interview dem US-Podcaster Scott Mann gegeben und er nannte die Episode »Die letzte Botschafterin«. Das gefiel uns so gut, dass wir es dann übernommen haben. Aber Sie haben mich eben gefragt, was der Titel bedeutet. Ich bin die letzte weibliche Botschafterin der ehemaligen Regierung und wahrscheinlich auch die letzte. Die Taliban ernennen keine Frauen. Sie sehen Frauen auch nicht als Menschen an. Es ist also symbolisch und soll zeigen, wie die Taliban über Frauen denken.
Wie ist Ihr offizieller Status derzeit? Nach dem August 2021 blieben Sie Botschafterin Afghanistans, repräsentieren aber nicht die aktuelle Regierung. Wie kann man sich das vorstellen?
Es ist richtig, dass ich immer noch den Posten der afghanischen Botschafterin in Wien inne habe. Ich bin akkreditiert, führe meine repräsentativen und konsularischen Tätigkeiten aus, kann aber selbstverständlich nicht alles machen. Ich bin aktiv und mache, was andere Botschafter auch machen: Ich habe Kontakt mit dem Außenministerium in Österreich, dem Parlament, der Zivilgesellschaft und Einzelpersonen. Meine Mission repräsentiert Afghanistan bei den internationalen Organisationen in Österreich. Ich bin dort also sehr aktiv, vor allem bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE. Das ist meine wichtigste Plattform. Ich fühle mich dort sehr willkommen. Neben der OSZE arbeite ich bei der IAEA (Internationale Atomenergie-Organisation, jW), UNIDO (UN-Organisation für industrielle Entwicklung, jW), CTBTO (Organisation des Vertrages über das umfassende Verbot von Nuklearversuchen, jW) und bei vielen anderen Organisationen, die meine Berechtigungen nicht widerrufen haben. Unsere Flagge weht im Vienna International Centre (Sitz der UNO in Wien, jW) und ich habe ein kleines Büro in der Stadt, durch das ich die Menschen Afghanistans vertrete – und auch die Islamische Republik Afghanistan, die als solche nicht mehr existiert. Und da ich nicht mehr alle meine Aufgaben erfüllen kann, habe ich meine Arbeit geändert und meine Botschaft zu einem Zentrum für Menschen- und Frauenrechte gemacht.
Sind Sie Aktivistin oder Diplomatin?
Selbstverständlich sollte man als Diplomatin keine Aktivistin sein. Ich bin ausgebildete Diplomatin, aber wenn man sieht, dass Recht unterminiert wird und Frauen entrechtet werden, soll ich als Diplomatin dann schweigen? Ich erhebe dagegen meine Stimme und sage, was ich für richtig halte.
Aber helfen Sie mir bitte zu verstehen, wie es funktioniert, dass Sie bei den internationalen Organisationen einen Staat repräsentieren, den es de facto nicht mehr gibt, und nun Islamisten in Kabul eine Regierung bilden, die Sie nicht anerkennt. Etwa in den vergangenen Wochen beim Treffen des Leitungsgremiums und der Generalkonferenz der IAEA.
Ich habe an diesen Treffen teilgenommen.
Das stimmt, ich habe Sie bei den Treffen im Saal gesehen. Welche Positionen und Haltungen bringen Sie in solche Runden ein, wenn Sie diese nicht mit einer Regierung in Afghanistan koordinieren können?
Das ist eine sehr außergewöhnliche Situation. Es ist schwer zu erklären, wie das funktioniert. Die Herrscher in Afghanistan haben keine Legitimität, sie werden von nahezu allen Ländern der Welt nicht anerkannt und können daher keine Diplomaten entsenden. Ich habe aber Berechtigung und habe daher meinen Platz bei den internationalen Organisationen behalten. Leider habe ich aber kein Stimmrecht. Zuletzt haben wir das Stimmrecht bei der IAEA verloren, da wir die jährlichen Gebühren nicht bezahlen konnten. Sehen Sie, jedes Land muss eine Jahresgebühr zahlen, aber die wurde nicht entrichtet. Alles andere kann ich machen: Ich nehme an den Sitzungen teil, ich habe Rederecht und kann meine Ansichten teilen.
Logischerweise bin ich bei diesen Arbeiten beschränkt, denn wichtige Fragen werden bei der IAEA besprochen, die Regierungsstatus voraussetzen – den wir aber nicht haben. Es ist eine große Verantwortung bei solchen Debatten und ich kann nicht einfach allein für mich selbst entscheiden. Aber meine Teilnahme allein ist ein Symbol für die Frauen von Afghanistan, und um zu zeigen: Die Taliban sind in diesen Organisationen nicht willkommen.
Haben Sie Kontakt zu den Behörden in Kabul? Oder anders gefragt: Erhalten Sie von ihnen Ressourcen? Woher kommen die Mittel, die Sie benötigen, um Ihre Arbeit zu machen?
Unsere Ressourcen sind sehr beschränkt. Wir hatten eine Botschaft mit 22 Angestellten, darunter Diplomaten und andere lokale Mitarbeiter. Wir alle haben Apartments, deren Miete gezahlt werden muss. Aber seit der Machtübernahme haben wir keinen einzigen Cent erhalten. Wir mussten allen Mitarbeitern kündigen, in eine kleinere Botschaft übersiedeln und auch günstigere Wohnungen finden, um Miete zu sparen. In dieser Zeit wurde uns sehr stark von der afghanischen Gemeinde geholfen. Ich lebe derzeit in der Wohnung eines wohlhabenden, etablierten Afghanen in Wien. Wir haben nicht mehr die Posten wie Fahrer und diplomatisches Personal. Das widerspricht alles dem diplomatischen Protokoll, aber wir denken derzeit nicht an das Protokoll, sondern an unsere Aufgabe.
Dennoch brauchen wir Geld, um unsere Ausgaben zu bezahlen. Wir haben unsere Konsularabteilung geöffnet und erhalten durch diese Tätigkeit etwas Geld, mit dem wir das Büro zahlen können. In manchen Monaten funktioniert das besser als in anderen.
Die Konsularabteilung ist also offen. Sie produzieren da Dokumente und Ausweise. Aber wie können Sie – gerade solche – konsularische Tätigkeiten ausüben, wenn keine Regierung Sie unterstützt?
Wir können nicht alles machen, aber wir versuchen, alles durchzuführen, wofür wir keinen Kontakt mit Kabul benötigen. Dazu zählt etwa die Identifizierung von Personen, Geburts-, Sterbe- sowie Hochzeitsurkunden ausstellen und derartige Dinge. Reisepässe können wir nicht ausstellen, weil wir keine haben. Aber bestehende können wir verlängern. Wir können 50 Prozent unserer Arbeiten nicht ausführen, aber den Rest können wir machen.
Sie haben gesagt, Ihre Räumlichkeiten seien ein Zentrum für Frauenrechte. Wie ist die Situation für Frauen in Afghanistan?
Afghanistan ist das einzige Land der Welt, das weder eine funktionierende Verfassung noch ein funktionierendes Rechtssystem hat. Die Wirtschaft ist nahezu völlig zusammengebrochen. Es gibt keine Nahrungssicherheit, hohe Arbeitslosigkeit und die internationale Hilfe ist rückläufig.
Afghanistan ist ein Umschlagplatz für illegale Drogen, obwohl die Taliban behaupten, dass sie es unter Kontrolle haben. Aber das stimmt nicht. Zuletzt wurde das Land zu einem Produzenten synthetischer Drogen. Zusätzlich wurde das Land zu einem Sitz des internationalen Terrorismus.
Das ist die allgemeine Lage. Für Frauen und Mädchen ist es sehr schwierig. Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 haben sie harsche Restriktionen für sie eingeführt. Afghanistan hat ein dreistufiges Schulsystem mit sechs Jahren Grundschule, drei Jahren Mittelschule und drei Jahren höherer Schule. Nach sechs Jahren Grundschule, also mit etwa elf oder zwölf Jahren, dürfen Mädchen die Schule nicht mehr besuchen. Frauen können auch keine Universitäten besuchen. Die Taliban haben bisher mehr als 100 Dekrete veröffentlicht, mit denen sie Mädchen und Frauen vom öffentlichen Leben fernhalten. Sie haben das Frauenministerium aufgelöst und dafür ein Ministerium für Tugend und Laster eingeführt. Dessen Aufgabe ist es, das Leben von Frauen zu kontrollieren. Sie können in öffentliche Räume gehen, auf die Straße, in Parks, aber sie müssen immer verschleiert sein, so wie es die Taliban vorschreiben. Die Verordnungen führen zu enormen Einschränkungen und Segregation, Knechtung und starker Diskriminierung von Frauen. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Ich bezeichne die Lage als Genderapartheid.
Was können Sie aus Wien machen, um daran etwas zum Besseren zu ändern?
Nicht viel, wirklich nicht viel. Für die Diaspora ist es immer sehr schwer, Änderungen im Land zu erreichen. Wir sind weit weg. Manchmal bricht der Kontakt zu den Menschen in Afghanistan ab. Aber ich kann nicht einfach hier sitzen und nichts machen. Ich versuche zu tun, was in meiner Macht steht, um Frieden und Gerechtigkeit in Afghanistan zu erringen. Es ist nicht viel, aber die Frauen in der Diaspora arbeiten sehr hart, um ihre Stimme für die Frauen in Afghanistan zu erheben. Das ist wichtig, um der internationalen Gemeinschaft klarzumachen, dass sie nicht die Taliban-Regierung anerkennen soll. Das ist der Widerstand unserer Frauen.
Welche Formen nimmt dieser an?
Es gibt verschiedene Formen des Widerstands: Die Frauen in Afghanistan machen ihre Arbeit und wir außerhalb des Landes machen unsere Arbeit. Als Diplomatin habe ich derzeit eine Plattform und diese Plattform nutze ich für die Mädchen und Frauen in Afghanistan. Diese Möglichkeit nutze ich, um aufzustehen, zu sprechen und Bewusstsein zu schaffen. Viele Menschen sagen zu mir, ich sei doch nur eine Diplomatin: Ja, ich war eine Diplomatin, aber nun muss ich meine Stimme für eine wichtigere Sache verwenden.
Sie sagen, die Taliban-Regierung solle nicht offiziell von anderen Staaten anerkannt werden. Aber viele internationale Beobachter argumentieren, dass dadurch keine wirtschaftlichen Beziehungen aufgebaut werden können und die finanziellen Rücklagen des Landes weiterhin im Ausland eingefroren bleiben. Dies würde den Menschen noch mehr schaden. Sollen die im Ausland eingefrorenen Staatsreserven dem Land zurückgegeben werden?
Hilfe zu den Menschen in Afghanistan zu bringen, braucht nicht derartige Ausreden. Wenn ein Land Hilfe bereitstellen möchte, dann gibt es dafür viele Wege. Bereits jetzt senden die USA enorm viel Geld an die Taliban, das kann man in den Medien auch nachlesen. Auch die Vereinten Nationen sind im Land an der Seite von vielen anderen internationalen Organisationen aktiv. Ich bin nicht dagegen, Hilfe nach Afghanistan zu bringen, denn die Menschen brauchen diese Hilfe. Sie leiden und leben unter harten Bedingungen. Staaten können das machen, ohne mit den Taliban in direkten Kontakt zu treten und sie als legitime Regierung Afghanistans anzuerkennen.
Die Frage des Vermögens im Ausland ist eine andere: Was wollen die Taliban damit machen? Sie wollen es für die Tagespolitik verwenden, aber mit Staatskapital macht man keine Tagespolitik, sondern es wird für langfristige Planung und die kommenden Generationen verwendet. Bereits jetzt gibt es Berichte, dass vieles an Hilfe nicht bei den Menschen ankommt, da die Taliban es für sich und für ihre eigenen Leute einbehalten.
Viele in der internationalen Gemeinschaft argumentieren, die Taliban seien die einzige Alternative und man könne nichts anderes tun, als mit ihnen zu arbeiten. Aber das ist kein Argument, das ich akzeptiere, denn es ist nicht stichhaltig. Über Jahrzehnte wurden sie als Terroristen bezeichnet, so behandelt und bekämpft. Was hat sich nun plötzlich geändert? Man kann sie nicht ändern, nur weil man sie anders bezeichnet. Die Taliban haben sich ja nicht gewandelt. Aber es ist für die internationale Gemeinschaft selbstredend einfacher, sich mit den Taliban zu arrangieren. Aber ich warne die internationale Gemeinschaft davor, dies zu tun.
Weshalb?
Langfristig ist das eine gefährliche Strategie – nicht nur für die Menschen in Afghanistan, sondern für die ganze Region. Die Taliban verfolgen eine sehr gefährliche Ideologie mit ihrer Interpretation des islamischen Glaubens und der Schariagesetzgebung.
Eine letzte Frage habe ich zur Sicherheitslage in Afghanistan: Viele Forscher und Sicherheitsberater wenden ein, dass die Taliban notwendig seien für die Sicherheitslage im Land, um andere Gruppen wie den »Islamischen Staat« Khorasan einzudämmen. Was sagen Sie zu solchen Einwänden?
Ich höre oft, dass es nun Frieden im Land gibt. Aber was ist unsere Definition von Frieden? Einfach nur, dass es keinen Krieg mehr gibt? Ich glaube nicht, dass es einfach ein physischer Akt ist, der damit beginnt, die Waffen niederzulegen. Das ist eine falsche Definition von Frieden. Meine Definition beinhaltet Freiheit, Wohlstand und Gerechtigkeit für alle Menschen im Land. Das ist die Bedingung für einen anhaltenden Frieden. Die Taliban profitieren auch von der Situation und haben Verbindungen zu IS-Khorasan und Al-Qaida. Nach Zählungen gibt es 21 terroristische und bewaffnete Formationen, die derzeit im Land aktiv sind. All diese unterhalten dort Trainingslager.
Manizha Bakhtari … wurde 1972 als Tochter des afghanischen Dichters und Literaten Wasef Bakhtari in Kabul geboren. Sie ist verheiratet mit dem afghanischen Taekwondo-Meister Naser Hotaki, der in Vancouver, Kanada, lebt und mit dem sie vier Kinder hat. Ab 2002 arbeitete sie als Dozentin an der Fakultät für Journalismus der Universität Kabul. Danach begann sie eine diplomatische Laufbahn: Von 2007 bis 2009 arbeitete sie als Stabschefin des Außenministers der von westlichen Staaten gestützten afghanischen Regierung. Danach war Bakhtari bis August 2015 afghanische Botschafterin in den nordischen Ländern mit Sitz im norwegischen Oslo. Am 7. Januar 2021 wurde sie zur afghanischen Botschafterin in Österreich ernannt, am 3. März 2021 erfolgte die Bevollmächtigung.
Manizha Bakhtari ist bis heute als Botschafterin der Islamischen Republik Afghanistan in Österreich tätig, obwohl sie von den seit August 2021 wieder in Kabul regierenden Taliban nicht anerkannt wird. Die Regierung in Wien hat sie weiterhin akkreditiert. So vertritt sie Afghanistan bei internationalen Organisationen wie der UN und nimmt konsularische Tätigkeiten in der österreichischen Bundeshauptstadt für die dort lebende afghanische Diaspora wahr.
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