Die Katastrophe ist unausweichlich
Von Kai Köhler
Die Konzertsäle beim Musikfest Berlin 2025 waren voll, die teuren Blocks zumeist die bestverkauften. Offensichtlich gibt es ein zahlungskräftiges Publikum, das Geld auch für anspruchsvolle Programme aufzuwenden bereit ist.
Politisch wurde das Festival – 30.8. bis 23.9. – auch, geplant war das aber nicht. Das Flanders Festival Ghent hatte die Münchner Philharmoniker ausgeladen, weil deren designierter Chefdirigent Lahav Shani israelischer Staatsbürger und zugleich auch musikalischer Leiter des Israel Philharmonic Orchestra ist. Nun rettet kein Kulturboykott einen einzigen Bewohner von Gaza, und wollen Leser der jungen Welt die Verantwortung für irgendeine Entscheidung der deutschen Regierung übernehmen? Kurz: Die Ausladung war dumm und spielte nur denen in die Hände, die Israelkritik und Antisemitismus planmäßig vermischen. Aus Solidarität erhielten die Münchner und Shani mehrere Einladungen, unter anderem eben zum Musikfest Berlin. Man konnte sich an einem klangsensiblen, beinahe kammermusikalischen Beethoven-Violinkonzert mit Lisa Batiashvili als Solistin erfreuen, einem klug disponierten Vorspiel und Isoldes Liebestod aus Wagners »Tristan«.
Zuvor sprach Kulturstaatsminister Wolfram Weimer. In seiner glücklicherweise kurzen Rede verknüpfte er allzu dramatisch die falsche Ausladung mit dem Jahrestag der Nürnberger Rassegesetze der Nazis. Ferner redete er von der Musik, die Grenzen überschreite und Herzen öffne. Freilich bekam Shani den Münchner Job, weil sein Vorgänger Valery Gergiev unter dem Vorwurf der Putin-Nähe gefeuert wurde. Andere Künstler russischer Herkunft, die sich nicht oft genug von ihrer Regierung distanziert haben, werden bis heute diskriminiert. Es ist immer wieder erstaunlich, mit welcher Heuchelei man durchkommt, ohne ausgelacht zu werden.
Neben viel neuer und selten aufgeführter Musik gab es bekannte, oft interpretierte Werke zu hören. Hier erwies sich, wie viele sinnvolle Lesarten Kompositionen ermöglichen, so dass man sie immer wieder neu entdecken kann. Etwa die 5. Sinfonie von Jean Sibelius, die das Orchestre de Paris unter Esa-Pekka Salonen spielte. Hier gab es nichts von dem vagen Gegrummel, in dem bei großer Besetzung das Geflecht der Streicherlinien oft versinkt. Ähnlich fesselnd geriet die Symphonie fantastique von Hector Berlioz, die das Orchester Les Siècles unter Ustina Dubitsky auf Instrumenten ihrer Entstehungszeit spielte. Nicht allein der rauere Klang, sondern mehr noch der Mut, extreme Emotionen übergangslos aufeinanderprallen zu lassen, ließ spüren, weshalb das Werk bei den ersten Aufführungen vor fast 200 Jahren bestürzend neu wirken musste.
Wie jedes Jahr beteiligten sich Berliner Orchester an dem Programm. Vladimir Jurowski koppelte mit seinem Rundfunk-Sinfonieorchester Schostakowitschs 11. Sinfonie mit Bohuslav Martinůs Gedenkmusik an das Massaker von Lidice, mit tschechischer Nationalmusik von Josef Suk und Arnold Schönbergs Anti-Hitler-Komposition »Ode to Napoleon Buonaparte«. Wie Martinů nahm Schostakowitsch ein Massaker zum Gegenstand, den Petersburger Blutsonntag vom Januar 1905. Die ganze Sinfonie ist diesem Revolutionsjahr gewidmet. Der Eingangssatz, der die Erstarrung vor den Kämpfen schildert, klang im Konzert noch etwas zu lautstark, als fürchteten sich die Musiker vor der Wiedergabe von Ereignislosigkeit. Dieser Nachteil wandelte sich in einen Vorteil, sobald es um die Vertonung des Mordens ging. Selten hört man die Gestaltung der Metzelei so angemessen brutal. Gleiches gilt für den Schlusssatz, der revolutionäre Kämpfe schildert. Hier ist Schostakowitsch kein Warner, wie es eine verharmlosende Erklärung will, sondern Realist.
Das Konzerthausorchester unter Michael Sanderling brachte Mahlers 6. Sinfonie. Mag Luciano Berios kurzes vorgeschaltetes Werk »Eindrücke« auch Mahler-Bezüge aufweisen, es wurde doch von der Sinfonie mit ihren gewaltigen zeitlichen und dynamischen Dimensionen an den Rand gedrückt. Sanderlings straffe und dramaturgisch intelligente Leitung verdeutlichte, weshalb diese Sinfonie als die »tragische« bezeichnet wird. Die Katastrophe ist unausweichlich, weil die Musik in ihrem Vorwärtsdrang und ihrer Aggressivität sich selbst zersetzt. Mahler schrieb Schläge mit einem riesigen Hammer auf einen Holzblock vor: Der äußere Effekt steht aber nicht an den Wendepunkten, sondern wirkt nur dort, wo die Bewegung ohnehin am Zusammenbrechen ist. Sanderling ließ einen dritten, von Mahler gestrichenen Hammerschlag wieder ausführen: philologisch zweifelhaft, doch dramaturgisch überzeugend.
Die Berliner Philharmoniker hatten in ihrem ersten Festbeitrag unter Franҫois-Xavier Roth als Hauptwerk Igor Strawinskys »Le sacre du printemps« auf dem Programm. Roth setzte bei dieser Ballettmusik, die immerhin mit einem Menschenopfer endet, nicht auf Lautstärke. Vielmehr arbeitete er die Reibung der Klangfarben heraus. Kirill Petrenko dirigierte als Hauptwerk des zweiten Beitrags die 1. Sinfonie von Johannes Brahms. Das klang pastos im ersten Satz, in dem doch das rhythmisch Insistierende erbarmungslos im Vordergrund stehen müsste, und emotional aufgeheizt im zweiten Satz, dessen Form undeutlich wurde. Der wenig analytische Zugriff Petrenkos funktionierte indessen im Finale, dessen Problematik nicht mehr zu verkennen war. Hier arbeitete Petrenko das Ernste, geradezu Bohrende der Komposition heraus, und noch im scheinbaren Schlusstriumph blieb das Katastrophische. Hier war Brahms zeitgenössischer als manche zeitgenössische Musik.
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