Geschichte der Traumwandler
Von Ken Merten
Zugegeben, der Rezensent hat nicht viel Ahnung von der chinesischen Literatur. So viel aber weiß er: Dass in ihrer Geschichte Satiren und Herrschaftspossen keine Seltenheit sind. Der heute 67jährige in Beijing lebende Schriftsteller Yan Lianke hat sich mit »Der Tag, an dem die Sonne starb« dem angenommen – nicht etwa, indem er die Verhältnisse des gegenwärtigen Chinas allein kritisiert, sondern tief in der Vergangenheit herumwühlt, um diese gleich mit bloßzustellen.
»Die Gegenwart, das Hier und Jetzt«, heißt es in der Übersetzung (Marc Hermann) des Romans aus dem Jahr 2016, »war in einem Alptraum gestorben.« Zu dem Zeitpunkt ist der Ort Gaotian, »Mittelpunkt von China und damit (…) Mittelpunkt der Welt«, bereits dem kollektiven Somnambulismus verfallen, der in die Katastrophe führt. Geht man davon aus, dass der Wetterfrosch im Radio lügt, dann verhüllt ein riesiges Smogmeer die Sommersonne und verlängert jene Nacht, in der die Menschen traumwandelnd ausrasten. Sie sprechen ihre tiefsten Geheimnisse aus, berauben den Nachbarn, stürzen sich in den Tod oder werden zu Vergewaltigern und Mördern. Frauen bieten Männern ihre Körper an – und da der Autor keine Ebene bietet, die die freiwillige Objektwerdung unterläuft, ist sie Indiz dafür, dass bei Lianke nicht selten der Wunsch Vater des Gedankens war. Seine Höllenfahrt ist satt an so trivialer wie frauenfeindlicher Pornographie und Splatterhorror, der keine Karikatur, sondern Selbstzweck zu sein scheint.
Erzähler Li Niannian fängt mit seinen eingeschränkten Mitteln das Tohuwabohu ein: »Mein Kopf ist jahrein, jahraus ein einziger Kleister. Ein einziger Modder. Das ist er schon immer gewesen, und deshalb rede ich und rede, lang und breit und breit und lang. (…) Und weil ich so dumm bin, kann ich in all dieses Wirrwarr auch keine Ordnung bringen, so dass meine Worte wie Bruchstücke klingen.« Niannian ist jugendlicher Nachbar seines liebsten Autoren: Yan Lianke tritt als Figur im Roman auf, ein in die Jahre gekommener, noch bei Mama wohnender Schriftsteller ohne Inspiration, dessen Gesamtwerk, so Niannian, »ein primitives, chaotisches Gräberfeld« sei, ein Romancier, der sich mit seinem »Geschreibsel ein paar Zipperlein eingehandelt hatte.« Zwei der Werke Yans sind in der Volksrepublik indiziert, dieser Roman wurde in Hongkong erstpubliziert. Eine Minimierung öffentlicher Gräberfelder, scheint’s, wie sie auch die seltsam undatierbare Handlung von »Der Tag, an dem die Sonne starb« anstößt: In den 1990ern sollten, der Platzersparnis halber, traditionelle Erd- von Feuerbestattungen abgelöst werden. Gerade im ländlichen Raum sträubte man sich gegen die Verordnung. Nianians Vater verdingte sich dabei als emsiger Denunziant, während Niannians Onkel, der Eigentümer des Krematoriums mit umfunktioniertem Stahlschmelzofen aus der Zeit des Großen Sprungs nach vorn, zu großem Reichtum gelangte. Wer ihm nicht genug zahlt, muss mit ansehen, wie die zu kurz verbrannten Reste der Verstorbenen mit dem Hammer kleingehauen werden, damit sie in die Urne passen.
Yans Kritik an der ökonomischen Öffnungspolitik Deng Xiaopings setzt an deren schmerzlichsten Stellen an: Die Bewohnerinnen und Bewohner von Gaotian geraten überhaupt erst ins Schlafwandeln, weil sie sich in der brütenden Junihitze bei der Ernte überanstrengen, ohne dass ihnen hinreichend Landwirtschaftsgeräte zur Verfügung stünden.
Kulturkonterrevolutionäre Schlafwandler, die das so heilsversprechende wie menschenverzehrende »Himmlische Reich des ewigen Friedens« aus der Mitte des 19. Jahrhunderts reinstallieren wollen, kämpfen gegen welche, die von Kommunismus reden, dabei aber Pol Pot in Sachen Brutalität übertreffen und Mao widersprechen, der da in seinem kleinen roten Buch darauf hinwies, dass im Volkskrieg alles Beutegut abzugeben sei und nicht dem gehört, der die meisten Feinde totschlägt.
Seit niemand mehr leugnen kann, dass vom Westen aus emsig daran gearbeitet wird, einen Krieg gegen die Volksrepublik China vorzubereiten, wird auch wieder mehr Christopher Clark gelesen. Die Schlafwandlerthese, mit der der australische Historiker 2012 nachweisen wollte, dass der Erste Weltkrieg ein ganz großes Upsiduppsi war, ist so falsch wie beliebt im bürgerlichen Lager. Yan Lianke scheint mit seinem zotenreichen, oftmals schön besprachbilderten, fordernd mäandernden und von seltsamen Monodialogen – Selbstgespräche, wie sie Schlafende im Wachzustand führen, führen hier auch Wachende im geistigen Schlafmodus – gespickten Roman Clarks These zum Weltgesetz zu erklären. Denn auch wenn sich einige Wache als Mitläufer unter die somnambulen Massen aller Zeitalter schummeln, ist hier die Geschichte Chinas – als Weltmitte entsprechend die Geschichte der Menschheit gleich mit – eine von höchstens halbbewussten Träumerinnen und Träumern. Eine solche Spezies, das nur als kleinster Einwand, brächte niemand hervor, der sie per schöner Literatur entzaubern könnte. Yan Lianke ist ein guter Beweis dafür, dass er mit »Der Tag, an dem die Sonne starb« grundsätzlich falsch liegt.
Yan Lianke: Der Tag, an dem die Sonne starb. Aus dem Chinesischen von Marc Hermann. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2024, 366 Seiten, 25 Euro
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