Zwischenstopp im Zwischenreich
Von Alexander Kasbohm
Vor drei Jahren wuchs der Bekanntheitsgrad von Lucrecia Dalt ein wenig in die Breite. »¡Ay!« war Album des Jahres 2022 im britischen Avantgardemagazin Wire. Gerade ist der Nachfolger »A Danger to Ourselves« erschienen. War Dalt mit dem Vorgänger »¡Ay!« tatsächlich beim Songformat angelangt, geht es ihr nun um dessen Zersetzung von innen heraus.
Die in Berlin lebende Kolumbianerin ist eine Spätberufene. Vor ihrer musikalischen Laufbahn hat sie Geologie studiert und bei einer Geotechfirma gearbeitet. Ihre ersten musikalischen Arbeiten waren inspirierte Klangexperimente. Dalt suchte, schuf und veränderte Sounds, bis sie das Material hatte, mit dem sie weiterarbeiten wollte. Die schiere Freude am Experiment, ihre bedingungslose Neugier, übertrugen sich auf die meist instrumentalen Kompositionen und den Hörer. Höhe- und Endpunkt dieser Phase war 2018 mit »Anticlines« erreicht. Vier Jahre später, auf »¡Ay!«, bildeten dann erstmals musikalische Traditionen ihrer Heimat das Grundgerüst. Die Stücke hatten Songcharakter, Lucrecia Dalt reüssierte als richtige Sängerin, nicht länger als Musikerin, die manchmal ihre Stimme benutzt. Gleichwohl erschien nichts an dem Album konventionell, alles klang neu im Sinne von »so noch nicht gehört«.
Auf »A Danger to Ourselves« spürt man den Einfluss ihres Partners und Koproduzenten David Sylvian durchaus, aber eher subtil. Es ist eindeutig ein Lucrecia-Dalt-Album. Sylvians Wirken macht sich vor allem in der Geräumigkeit der Arrangements bemerkbar und darin, wie Popkonventionen sabotiert werden. Während sich Sylvian im Laufe seiner Karriere immer weiter vom Pop entfernt, sich sozusagen von innen nach außen bewegt hat, bewegt Dalt sich von außen nach innen, vom Soundexperiment zum Song. Gemeinsam experimentieren die beiden nun an dieser Wegkreuzung, auf diesem zugleich unheimlichen, verführerischen, bedrohlichen Album. Dalt ist, von der Konstruktion kommend, jetzt bei der fröhlichen Dekonstruktion angelangt. Sylvian steuert neben seiner kongenialen Produktion einzelne Gitarrenparts und die Spoken-Word-Coda zum Track »Cosa Rara« bei.
Bislang wurde bei Dalt stets die Distanz zwischen Autor und lyrischem Ich deutlich. Auf »¡Ay!« war es die Erzählperspektive eines Aliens, das die Erde besucht. Ein legitimer Kunstgriff, um sich mit konkreten irdischen bzw. menschlichen Dingen zu befassen. Auf dem neuen Album gibt es so eine erzählerische Zwischenebene nicht. Die Entfernung zwischen Erzähler und Hörer erscheint kleiner, das Album wirkt persönlicher.
Rückgrat von »A Danger to Ourselves« ist die Perkussion ihres symbiotischen musikalischen Partners Alex Lázaro, dessen Rhythmen die sehr unterschiedlichen Tracks zusammenhalten, ihnen einen nicht zu unterschätzenden Spin geben. Über dem ganzen Album liegt eine surrealistische (Roadmovie-)Atmosphäre, man muss an die besseren Filme von David Lynch denken. An die Reise eines Paares durch eine Wüstenlandschaft der USA. Mit all der Hitze, Trockenheit, Einsamkeit, Gemeinsamkeit, Zärtlichkeit, der Leidenschaft und den Irritationen, die so eine Reise mit sich bringt.
Nie zuvor war Dalt so zugänglich wie auf »Hasta el Final«, »Divina« oder »Stelliformia«, sie wechselt zwischen Englisch und Spanisch und scheint sich in ihrer neuen Rolle als Sängerin sehr wohl zu fühlen. »A Danger to Ourselves« zeigt aber zugleich, dass (Leftfield-)Pop nicht das Ziel ihrer Reise ist, sondern nur ein Zwischenstopp, der durchaus in Frage gestellt wird, den sie mit großer Neugier genau erforscht.
Lucrecia Dalt: »A Danger to Ourselves« (RVNG)
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